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Paneuropa-Festakt zu 60 Jahre Elysée-Vertrag

Beim Festakt zum 60. Jahrestag des Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrags (Elysée-Vertrag), den die Paneuropa-Union Deutschland in Kempten durchführte, kritisierte deren Präsident, der langjährige bayerische Europaabgeordnete Bernd Posselt, den „extrem unbefriedigenden Zustand“ der Beziehungen zwischen Paris und Berlin.

Höhepunkt der Veranstaltung in der Allgäu-Metropole war eine historische Begegnung zwischen dem Internationalen Präsidenten der Paneuropa-Union, Alain Terrenoire aus Frankreich, und dem ehemaligen Bundesfinanzminister Theo Waigel. Ersterer ist der Sohn von Louis Terrenoire, der als Generalsekretär der französischen Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus, der Résistance, im KZ-Außenlager Kempten inhaftiert war. Nach dem Krieg war er ein enger Mitstreiter von Staatspräsident Charles de Gaulle und verhandelte mit Deutschland den Elysée-Vertrag, wobei ihn der junge Alain als Mitarbeiter unterstützte. Theo Waigels Vater wiederum mußte im Ersten Weltkrieg gegen Frankreich kämpfen, und der ältere Bruder des späteren CSU-Politikers fiel im Zweiten Weltkrieg in Lothringen und ist auf einem Soldatenfriedhof im Elsaß begraben. Gastgeber im Großen Sitzungssaal des Rathauses von Kempten war der Oberbürgermeister der Stadt, Thomas Kiechle, Ehrengast die französische Generalkonsulin in München, Corinne Pereira da Silva, die hervorhob, daß die deutsch-französische Freundschaft keinesfalls selbstverständlich sei und unbedingt von der Zivilgesellschaft mitgetragen werden müsse.

Posselt plädierte in seiner Ansprache für einen grundlegenden Neustart in der deutsch-französischen Freundschaft, die nicht als „Direktorium“ in der EU mißverstanden werden dürfe. Winston Churchill habe in seiner berühmten Zürcher Rede 1946 an Deutsche und Franzosen appelliert, sich in besonderer Weise „in den Dienst der europäischen Einigung zu stellen“, und Helmut Kohl als Ehrenbürger Europas habe stets betont, daß die unverzichtbare deutsch-französische Einheit durch eine besondere Berücksichtigung der kleineren EU-Mitgliedstaaten und der europäischen Gemeinschaftsinstitutionen ausbalanciert werden müsse. Der deutsche Paneuropa-Präsident rief dazu auf, dem Elysée-Vertrag neue, konkrete Inhalte zu geben. Als gemeinsame Ziele beider Länder nannte er die Erhaltung und Fortentwicklung der bäuerlichen Landwirtschaft, die allein Nahrungsmittelsicherheit gewährleiste, ein transeuropäisches Verkehrsnetz mit der rasch auszubauenden Eisenbahn-„Magistrale für Europa“ von Wien über München, Stuttgart und Straßburg nach Paris als Rückgrat, eine ökologisch geprägte deutsch-französische Industriepolitik, um die Wettbewerbsfähigkeit Europas gegenüber Konkurrenten wie China herzustellen, eine Europäische Energie-Union, die vor künftigen Erpressungsversuchen schütze, und eine wirkungsvolle Abstimmung beider Länder auf dem Weg zu einer weltweit handlungsfähigen Außen- und Sicherheitsgemeinschaft Europas. Posselt forderte darüber hinaus die Weiterentwicklung der supranationalen Demokratie in der EU durch Stärkung des Straßburger Europaparlamentes, das frei über die Zusammensetzung der EU-Kommission entscheiden müsse, sowie einen von Deutschen und Franzosen beflügelten europäischen Patriotismus: „Das Schicksal von Notre Dame liegt auch uns und allen anderen Europäern am Herzen.“

Im Rahmen seiner bewegenden Rede präsentierte Theo Waigel den zahlreichen Zuhörern im Kemptener Rathaus das Bajonett seines Vaters von der deutsch-französischen Front im Ersten Weltkrieg. Er nannte es „schockierend“, daß Krieg und Nationalismus mit dem Angriff auf die Ukraine wieder ins Herz Europas zurückgekehrt seien. Dennoch zeigte er sich optimistisch, daß sich die Erfolgsgeschichte der europäischen Einigung fortsetzen lasse. Europa brauche endlich eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), wie sie vor Jahrzehnten sowohl durch den von Deutschland angezettelten Streit um die Präambel des Elysée-Vertrages als auch zuvor durch das Nein der französischen Nationalversammlung zum EVG-Vertrag gescheitert sei: „Die EVG II ist das Gebot der Stunde, aber sieben Jahrzehnte früher wäre sie besser gewesen.“ Der Nationalstaat habe längst die Grenzen seiner Möglichkeiten erreicht, weshalb die EU gleichzeitig Stabilisierung und Heimat gewährleisten müsse: „Wir haben eine kleinräumige, emotionale Heimat und eine große, politische. Beide können nur auf Identität und Werten aufgebaut werden.“ Die europäische Wertegemeinschaft wurzele in Christentum, Aufklärung, Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Freiheitsrechten. Um möglichst bald Vereinigte Staaten von Europa oder Vereinigte Staaten in Europa zu errichten, gelte es, ein neues „Bündnis für Europa“ ins Leben zu rufen, aus Kirchen, Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften, Bauern, Jugendorganisationen, Kulturschaffenden sowie Städten und Gemeinden. Mit Blick auf Alain Terrenoire rief er aus: „Ich verneige mich vor Ihnen und Ihrer Familie. Nach dem, was Sie unter dem Nationalsozialismus erleiden mußten, war es eine Großtat, unmittelbar danach mit der Aussöhnung im Dienst der deutsch-französischen Freundschaft sowie der europäischen Einigung zu beginnen.“

Alain Terrenoire als Internationaler Präsident der Paneuropa-Union faszinierte die Zuhörer mit einem sehr persönlichen Zeugnis in deutscher Sprache, in dem er seine Familiengeschichte umriß. Sein Großvater mütterlicherseits, der Verleger Francisque Gay, und sein Vater, der Journalist Louis Terrenoire, hätten in der Zwischenkriegszeit die Zeitung „L’Aube“ herausgegeben, die sich für den Brückenschlag zwischen Kirche und Arbeiterschaft eingesetzt habe. Bei einer Trauerfeier für den französischen Außenminister und Friedensnobelpreisträger Aristide Briand, der sich als Ehrenpräsident der Paneuropa-Union bereits in den zwanziger Jahren für die deutsch-französische Aussöhnung und die europäische Einigung eingesetzt habe, hätten sich seine Eltern kennengelernt und fortan auch politisch zusammengearbeitet. Louis Terrenoire sei in den dreißiger Jahren wegen eines Buches, in dem er vor der Appeasement-Politik gegen Hitler sowie vor dem Münchner Abkommen gewarnt habe, auch in Frankreich heftig angefeindet worden. Schon unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch in Paris hätten Louis Terrenoire, seine Frau Elisabeth und Schwiegervater Francisque Gay begonnen, dagegen Widerstand zu leisten. Die Nationalsozialisten hätten durch eine Denuziation von der Funktion Louis Terrenoires als Generalsekretär der Résistance erfahren und ihn ins Konzentrationslager Dachau eingeliefert, von wo er dann nach Kempten weitertransportiert wurde. Für ihn sei es daher sehr beeindruckend, erstmalig persönlich in Kempten zu sein, so Alain Terrenoire. Auch das Thema Deutsch-Französischer Vertrag betreffe ihn unmittelbar, denn er habe in den sechziger Jahren seinen Vater bei dessen Ausarbeitung unterstützt und dabei eine junge heimatvertriebene Schlesierin als Übersetzerin der deutschen Texte ins Französische gewinnen können, die bis heute seine Frau sei. Die gemeinsame Tochter lebe seit 18 Jahren in München und habe seit einigen Monaten einen in Bayern geborenen Sohn. Vor dem Hintergrund seiner jahrzehntelangen Mitgliedschaft in der Französischen Nationalversammlung und im Europäischen Parlament appellierte Alain Terrenoire an Deutsche und Franzosen, mehr als tausend Jahre nach Karl dem Großen die Einheit der europäischen Kernvölker und damit des ganzen Kontinents wieder herzustellen.

Zuvor hatte Oberbürgermeister Kiechle den französischen Gast durch die Allgäuhalle geführt, in der die mit großen Grausamkeiten verbundene KZ-Haft seines Vaters Louis verortet war, und ihm im Kempten-Museum eindrucksvolle Zeichnungen eines Mithäftlings von Louis Terrenoire, Jean Vernet, aus dem Lageralltag gezeigt, die dort ausgestellt sind.

Der deutsch-französische Festakt endete mit der Eintragung der Ehrengäste ins Goldene Buch der Stadt Kempten sowie dem Musikstück „Gebet für die Ukraine“, das ein Bläserensemble um Stadtkapellmeister Thomas Frasch darbot.

Bericht: Paneuropa-Union (www.paneuropa.org) – Bilder: Johannes Kijas / Stefan Zwinge

 

Redaktion

Anton Hötzelsperger

Als freier Journalist bin ich bereits seit vielen Jahren mit der täglichen Pressearbeit für die Region Chiemsee, Samerberg und Oberbayern befasst. Mit den Samerberger Nachrichten möchte ich eine Plattform bieten für Beiträge aus den Bereichen Brauchtum, Landwirtschaft, Tourismus und Kirche, die sonst vielleicht in den Medien keinen breiten Raum bekommen würden.

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