Jungvogel Wiggerl versehentlich abgestürzt – Geretteter Geier unverletzt zurück in Felsnische – Ständige Beobachtung sichert Schutz
Berchtesgaden/Hilpoltstein, 13.06.2024 – Schreckmoment bei Bayerns Bartgeier-Burschen: Am späten Montagnachmittag kam es zwischen den beiden Ende Mai ausgewilderten Jungvögeln Vinzenz und Wiggerl in ihrer Felsnische zu einer kleinen aber völlig normalen Auseinandersetzung. Bei einer Ausweichbewegung fiel Bartgeier Wiggerl rückwärts über die Felskante aus der Nische und 30 Meter hinab in steiles Gelände. Sich abzufangen war dem Junggeier dabei nicht möglich, da die Vögel in diesem Alter noch nicht fliegen können. Nur kurze Zeit nach dem Sturz barg das Projektteam von LBV (Landesbund für Vogel- und Naturschutz) und Nationalpark Berchtesgaden den unverletzten Vogel und brachte Wiggerl sicher zurück in die eingezäunte Nische.
„Da Projektmitarbeitende tagsüber die Nische von einem Beobachtungsplatz durchgehend überwachen, konnten sie nach Wiggerls Sturz sofort ein Expertenteam von LBV und Nationalpark informieren, das bereits kurze Zeit später für eine erste Einschätzung der Situation vor Ort sein konnten“, erklärt LBV-Bartgeierexperte Toni Wegscheider. Aus der Ferne analysierten die Fachleute die Position des Vogels und sein Verhalten. Dabei wurde schnell klar, dass sein Sitzplatz in einer stark durch Steinschlag gefährdeten Felsrinne lag, was sofortiges Handeln erforderte.
Wiggerl sollte deshalb umgehend seinen Standort wechseln, indem der Geier entweder vorsichtig in sichereres Gelände getrieben oder eingefangen und in die Felsnische zurück transportiert wird. „Auch bei anderen Auswilderungsprojekten im Alpenraum und bei natürlichen Bruten ist es schon vorgekommen, dass junge Bartgeier mal aus dem Horst fallen. Dank des intensiven Austausches mit internationalen Experten waren wir auf ein solches Ereignis vorbereitet“, so Nationalpark-Projektleiter Ulrich Brendel.
Während ein kleines, alpinerfahrenes Team zur Rettung Wiggerls in den Steilhang unterhalb der Nische aufstieg, informierten es die weiter entfernten Beobachter per Funk über das Verhalten des Geiers und das unübersichtliche Gelände. „Immerhin hat uns Wiggerl den Gefallen getan, dass er in einer Regenpause, bei noch ausreichend Tageslicht und in eine einigermaßen zugängliche Felsumgebung abgestürzt ist“, scherzt Toni Wegscheider im Nachhinein. Als sich das Kletter-Team näherte, machte der junge Geier keine Anstalten zur Flucht. Er saß sichtlich geschockt über den Vorfall zusammenkauert auf einem Felsvorsprung. So konnten ihn die Experten ohne große Gegenwehr mit einer übergeworfenen Decke einfangen. In einer Transportkiste ging es dann wieder hinauf in die Nische, in der Artgenosse Vinzenz die Rückkehr von Wiggerl reglos beobachtete. Nach einem kurzen Gesundheitscheck zog sich das Expertenteam sofort wieder zurück und beobachtete aus größerer Distanz die Wiedereingewöhnung des Geiers in seine vertraute Umgebung ohne weitere Auffälligkeiten.
„Dieser Vorfall zeigt wieder einmal, wie wichtig unser großer Betreuungsaufwand für die Bartgeier ist. Jeder einzelne Vogel hat eine enorme Bedeutung für die erfolgreiche Rückkehr der Art in die Alpen, sodass wir mit hohem Personal- und Technikeinsatz für eine größtmögliche Sicherheit der Jungtiere sorgen wollen“, so Ulrich Brendel. Die Überwachung durch mehrere Livekameras in der Nische und die ständige Beobachtung der Vögel vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung durch Nationalpark-Praktikanten und LBV-Mitglieder in einem Unterstand vor Ort, sorgten bislang stets für einen glücklichen Ausgang kritischer Situationen. Brendel weiter: „Das Faszinierende am Bartgeier ist, dass Jungvögel mit nur 90 Lebenstagen ausgewildert werden können und dabei ihr lebenswichtiges biologisches Programm für ihr künftiges Leben bereits vollkommen gespeichert haben. Dennoch ist in dieser ersten Lebensphase, vom Besetzen der Felsnische, über die ersten Flugversuche bis hin zum Verlassen des Gebietes eine intensive Betreuung durch Projektmitarbeitende unerlässlich“.
Live-Webcam in Felsnische
Wie sich die beiden Bartgeier-Jungs weiterhin verstehen und wie sie ihre ersten Flugübungen machen, kann jede und jeder im Internet verfolgen. Über die weltweit einzige Bartgeier-Live-Webcam werden die Geschehnisse in der Auswilderungsnische auf der Webseite des LBV unter www.lbv.de/bartgeier-webcam sowie unter www.nationalpark-berchtesgaden.bayern.de übertragen. In den darauffolgenden Monaten und Jahren kann auch der weitere Lebensweg der beiden Vögel mitverfolgt werden. Dank der GPS-Sender auf den Rücken der Vögel können Interessierte auf einer Karte unter www.lbv.de/bartgeier-auf-reisen beobachten, wo die Bartgeier künftig unterwegs sind.
Zum Projekt:
Der Bartgeier (Gypaetus barbatus) zählt mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,90 Metern zu den größten, flugfähigen Vögeln der Welt. Anfang des 20. Jahrhunderts war der majestätische Greifvogel in den Alpen ausgerottet. Im Rahmen eines großangelegten Zuchtprojekts werden seit 1986 im Alpenraum in enger Zusammenarbeit mit dem in den 1970er Jahren gegründeten EEP (Europäisches Erhaltungszuchtprogramm) der Zoos junge Bartgeier ausgewildert. Das europäische Bartgeier-Zuchtnetzwerk wird von der Vulture Conservation Foundation (VCF) mit Sitz in Zürich geleitet. Während sich die Vögel in den West- und Zentralalpen seit 1997 auch durch Freilandbruten wieder selbstständig vermehren, kommt die natürliche Reproduktion in den Ostalpen nur schleppend voran. Ein vom bayerischen Naturschutzverband LBV (Landesbund für Vogel- und Naturschutz) und dem Nationalpark Berchtesgaden gemeinsam initiiertes und betreutes Projekt zur Auswilderung von jungen Bartgeiern im bayerischen Teil der deutschen Alpen greift dies auf und unterstützt in Kooperation mit dem Tiergarten Nürnberg die alpenweite Wiederansiedelung. Dafür werden in den kommenden Jahren im Klausbachtal junge Bartgeier ausgewildert – im Jahr 2021 erstmals in Deutschland. Der Nationalpark Berchtesgaden eignet sich aufgrund einer Vielzahl von Faktoren als idealer Auswilderungsort in den Ostalpen. Mehr Informationen zum Projekt unter www.lbv.de/bartgeier-auswilderung.
Pressemitteilung Nationalparkverwaltung Berchtesgaden