Eine junge Mutter ist unzufrieden mit ihrem Schicksal. Ihr Mann ist vor über einem Jahr abgehauen und hat sie mit ihrem kleinen Sohn sitzengelassen. Sie lebt in Lyon, wo sie weder Familie noch Freunde hat, einen Krippenplatz hat sie auch noch nicht gefunden. Die Frau liebt ihren Sohn über alles, aber niemand nimmt ihr das Kind einmal ab und der Kleine lässt seiner Mutter keine freie Minute. Ihren Job als freiberufliche Grafikerin kann die Frau nur noch im Home Office ausüben. Immer wieder verliert sie Aufträge, weil sie des Kindes wegen Termine nicht einhalten kann, das Geld wird knapp. Für jede Ungezogenheit des Kindes erntet sie missbilligende Blicke, immer macht man ihr ein schlechtes Gewissen und schreibt ihr allein die Schuld für ihre prekäre Situation zu. In ihrer kleinen Wohnung fühlt sie sich einsam und gefangen und schmerzlich wird ihr bewusst, wie unfrei sie ist. Und so gönnt sie sich kleine Fluchten, die ihr die Illusion von einem anderen Leben geben: Wenn der Kleine endlich schläft, verlässt sie die Wohnung, streift durch die Straßen, schaut in Fenster, beobachtet Menschen. Erst nur ganz kurz, dann immer länger – es kann ja eigentlich nichts passieren, wenn der Junge im Bett liegt und schläft.
Buchprofile-Rezension von Günther Freund
Carole Fives, Kleine Fluchten
Roman, PAUL ZSOLNAY VERLAG, 2021, 144 S., 19,00 €
ISBN/EAN: 9783552072268