Der zweite Vierzeiler des Jahres 2022 ist erschienen und widmet sich dem Thema Geschichten. Den Leitartikel findet man als Leseprobe anbei.
Inhalt:
- Helmut Wittmann (Märchenerzähler, Grünau im Almtal): Über die Faszination alpenländischer Volksmärchen und Sagen
- Peter Gruber (Autor und Hirte, Wien/Ennstal): Eine Hommage an die unendliche Geschichte des Erzählens
- Christian Hartl, MA (Geschäftsführer Steirisches Volksliedwerk): Musikantengschichtln
- Prof. Mag. Dr. Thomas Gremsl (Institut für Ethik und Gesellschaftslehre, KFU Graz): Von Fake News, Verschwörungstheorien, digitaler Sphäre und unserer Gesellschaft
- Heinrich Kranzelbinder (ehem. Steirisches Landesarchiv): Menschliches Tun ist Kultur – Kulturarbeit im Bezirk Murau
- Folke Tegetthoff (Geschichten- & Märchenerzähler & Autor): Erzählen und Zuhören (Interview)
Der Vierzeiler ist erhältlich im Steirischen Volksliedwerk und kostet EUR 5,00 pro Ausgabe. Weitere Informationen unter beim Steirischen Volksliedwerk (T: +43 (0)316 / 908635 | E: info@steirisches-volksliedwerk.at | www.steirisches-volksliedwerk.at).
Gschichtln
Von Märchen und Geschichten …
Wie recht doch der russische Erzähler und Schriftsteller Lew Nikolajewitsch Tolstoi bereits im Jahr 1899 hatte, als er schon damals eine Lanze für gute Märchen brach. Meine erste Assoziation, wenn ich Märchen höre, sind immer die Brüder Grimm – Jacob und Wilhelm. Bereits 1806 begannen die beiden, auf Veranlassung von Achim von Arnim und Clemens Brentano, alte und vorwiegend mündlich überlieferte Geschichten zu sammeln, um sie danach mehr oder weniger stark zu überarbeiten. Die Märchen entstammten also nicht ihrer eigenen Fantasie. Aber egal, Grimms Märchen, und natürlich auch andere, sind trotzdem etwas ganz Besonderes, denn wenn man ein bisschen nachdenkt, merkt man erst, wie viele man davon eigentlich seit seiner Kindheit schon kennengelernt hat. Viele bleiben vielleicht aber auch deswegen in Erinnerung, weil sie so viel Gewalt enthalten, wie man heutzutage wohl kaum in eine Kindergeschichte packen würde. Man denke beispielsweise nur an Hänsel und Gretel, die unter einem Vorwand von ihrem Vater im Wald einfach ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen wurden oder an Aschenputtel – familiäres Mobbing vom Feinsten …
Nach Tolstoi’scher Bewertung müssen die skizzierten Märchen jedoch von sehr guter Qualität sein, denn sonst hätten sie die letzten ca. 150–200 Jahre wohl nicht überdauert. Märchen enthalten Bilder, in denen große Weisheit liegt, man sollte sie aber nicht lesen wie einen Tatsachenbericht. Das Entscheidende, um die einfache Schönheit vieler Märchen und Geschichten zu erkennen, ist, dass Herz und Psyche mitlesen und in den entstehenden Bildern mehr wahrnehmen als nur die Summe ihrer Teile. Im Kern geht es oft um zeitlose Themen wie Freundschaft, Mut, Ehrlichkeit, Loyalität uvm. Auch wenn sich einige moralische und pädagogische Maßstäbe – zum Glück – geändert haben.
Musikalische Erzählungen …
Im Volkslied gibt es sehr viele Lieder, die erzählenden Charakter haben. Solche Erzähllieder sind in der gegenwärtigen Singpraxis vieler Sänger*innen sehr beliebt, da es oft zu einer Identifikation mit dem gesungenen Inhalt kommt. Neben dem Informationswert ist meistens auch der Unterhaltungswert garantiert, wenn das Lied solistisch vorgetragen und darüber hinaus noch mit der entsprechenden Gestik und Mimik unterstützt wird. Zu den bekanntesten Vertretern des Erzählliedes gehört die Ballade, die in der aktuellen Liedergeschichte von Eva Maria Hois noch genauer behandelt wird.
Erzähllieder und Balladen begeisterten mich bereits seit meiner Kindheit. Manche hörte ich bei Familienfesten von meinem Vater und meinem Großvater. Andere wiederum – die für Kinderohren eher nicht so gut geeigneten – Jahre später in diversen Eisenerzer Wirtshäusern. Zwei dieser Lieder sind mir immer noch in sehr guter Erinnerung: „Wildschützenlied aus Eisenerz“ und „A årmer Teufl“. Vor allem letzteres sang mein Großvater oft, und wie eigentlich auch alle anderen Lieder, mit sehr großer Leidenschaft. Und wenn ich im einen oder anderen ruhigen Moment an dieses Lied denke, oder es vor mich hinsinge, kann durchaus sein, dass mir eine kleine Träne entwischt – gar nicht so sehr wegen des traurigen Textes, sondern vielmehr wegen der vielen schönen Erinnerungen an meinen Großvater.
Ein Vierzeiler voller Gschichtln
Mit dem Eingangsthema Märchen beschäftigt sich Märchen- und Sagenerzähler Helmut Wittmann schon aus beruflichen Gründen. Für uns macht er sich Gedanken über die Faszination beider Genres. Ebenfalls von Berufs wegen mit dem Erzählen verbunden ist der Autor Peter Gruber, dessen Beitrag eine Hommage an das Geschichtenerzählen darstellt. Weil Musikant*innen auch eine stete Quelle für gute Geschichten sind, habe ich selbst im Gespräch mit Musikantenkollegen einige „Musikantengschichtln“ ausgegraben und in einen Beitrag verpackt. Dass Geschichten nicht nur positiv wirken, zeigt Thomas Gremsl vom Institut für Ethik und Gesellschaftslehre der Uni Graz, der sich mit fake-news auseinandersetzt. Abschließend zeigt Heinz Kranzelbinder, der sich mit seinem Herzensthema Fotografie und Archivfotos beschäftigt, dass auch Bilder Geschichte(n) erzählen können. Mir bleibt nichts anderes, als Ihnen viel Freude beim Lesen der folgenden „Gschichtl-Gschichtn“ zu wünschen.
Text: Steirisches Volksliedwerk – Bildmaterial: Steirisches Volksliedwerk / pixabay, CCO