Wenn Jemand einhundert Jahre alt wird, dann kann er viel erzählen, besonders dann, wenn er sich über seine Familie und Beruf hinaus für das Gemeinwohl und für die Dorfgemeinschaft ehrenamtlich eingesetzt hat. So bei Xaver Stadler aus Grainbach auf dem Samerberg. Der rüstige „Einhunderter“ erfreute sich bei seinem 100. Geburtstag über viele Besuche, vor allem aber über das Ständchen, das die Samerberger Musikkapelle unter der Leitung von Benedikt Paul ihrem „Ehren-Dirigenten“ vor seinem Haus in Grainbach gaben. Welch bewegtes Leben Xaver Stadler außerhalb der Familie (mit drei Kindern, vier Enkelkindern und zwei Urenkelkinder) hatte, ergibt sich bei einem Gespräch in der guten Stube, dessen Gabentisch noch geprägt ist von den vielen Aufmerksamkeiten der Freunde, Vereine und Gratulanten.
Ukraine- und Russland-Kriegs-Erinnerungen
Angesichts des aktuellen Überfalls von Russland auf die Ukraine und auf die Bilder des Krieges mit der geschundenen Bevölkerung ist die Stimmung am Morgen sehr bedrückend. Xaver Stadler war selbst im Krieg, im Februar 1942 wurde er zur Heeresflack nach Freising einbestellt. Als Motorradfahrer gehörte er zur Krad-Melder-Staffel und der Marschbefehl lautete in Richtung Russland. „Wenn mein Vater im Krieg die ganze Ukraine durchquert hat sowie nach Stalingrad und nach Moskau unterwegs war, dann erleidet er mit seinen Erinnerungen und den aktuellen Fernsehbildern seinen Krieg ein zweitesmal“ – so Tochter Gertraud. Xaver Stadler will selber nicht zu viel über seine schlimmen Erlebnisse erzählen, seine Gedanken sind bei der Bevölkerung der Ukraine und bei den Soldaten, die ihre Heimat verteidigen bzw. die unmenschlichen Befehle ausführen müssen. Der Soldat Xaver Stadler wurde bei seinem Einsatz zweimal verletzt. Ein erstes Mal mit einem Streifschuss im Süden Rumäniens und ein zweites Mal bei einem Einsatz am Schwarzen Meer mit Verletzungen im Oberschenkel und in der Brust. Dazu gibt es eine besondere Geschichte, denn Xaver Stadler hatte eine Zigaretten-Dose aus Blech in der Hosentasche und diese fing einen weiteren Splitter ab, dazu sagte er: „Das hat mir wohl das Leben gerettet, diese Dose mit dem sichtbaren Einschuss habe ich mir aufbewahrt!“. Aufgrund der schweren Verletzungen kam Stadler dann zu einem Hauptverbandsplatz, von dort wurde er mit der Bahn nach Regensburg transportiert und von da ging es ins niederbayerische Abendsberg, das dortige Schulhaus war zum Lazarett umgenutzt worden. Als eine weitere Verlegung von Abendsberg zum Rasthaus Chiemsee erfolgte, war für Xaver Stadler der Krieg zu Ende, denn beim Rasthaus war der ihm bekannte Samerberger Arzt Dr. Hugo Lechleitner der Chefarzt. Und da das Rasthaus überbelegt war, durfte der Grainbacher nach Hause. Die Wunden des Krieges blieben, ein Splitter zwischen Herzmuskel und Zwerchfell machte noch länger Probleme ehe er sich verkapselte. Mit 36 Jahren – so der Landwirt weiter – machte sich bei Heuauflegen mit der Hand das Herz noch einmal bemerkbar als es bei einem drohenden Unwetter arg pressierte und es wegen der Überanstrengung zu einer Herzmuskel-Entzündung kam. „Dass ich so alt werden konnte, das habe ich dem Herrgott zu verdanken“ – so Xaver Stadler, der nicht nur im Krieg gesundheitliche Einschränkungen hinnehmen musste. Weitere Krankenhausaufenthalte gab es unter anderem bei einem komplizierten Blinddarmdurchbruch, bei einem Leistenbruch, bei einer Gallen-OP, bei einem Zwölf-Finger-Darm-Durchbruch, bei zwei Herzoperationen und bei einem Oberschenkelhalsbruch im Vorjahr. „Ich konnte mich immer gut erholen und ich habe immer gute Ärzte gehabt“ – so der dankbare Mehrfach-Patient, der inzwischen auf den Rollstuhl angewiesen ist.
Am Orts- und Vereinsgeschehen täglich interessiert
Dankbar ist Xaver Stadler, dass er seinen Lebensabend in guter Betreuung durch seine Schwiegertochter Hildegard und seinen Sohn Franz-Xaver genießen kann. Mit Interesse verfolgt er das heimatliche Geschehen im Radio, im Fernsehen und vor allem in der Tageszeitung. Was im Ort und in der Gemeinde Samerberg so passiert und geschieht, das interessiert den ehemaligen Vorstand des Verkehrsvereins von Grainbach ganz besonders. Bis zur Zusammenlegung der vorher selbstständigen Gemeinden Grainbach, Rossholzen, Steinkirchen und Törwang zur Gemeinde Samerberg im Jahr 1970 war Xaver Stadler zehn Jahre in Diensten des Grainbacher Fremdenverkehrs, dazu erklärte er: „Zimmer-Vermietungen auf dem Samerberg hat es schon vor dem Krieg gegeben, nach dem Krieg kamen die Gäste mit Reisebussen vor allem aus Westfalen und aus Berlin. Unser Beitrag war unter anderem das Erstellen einer Panorama-Karte und 1964 der Bau eines Skiliftes für die Jugend“. Die Verkehrsamtstätigkeiten erfolgten nebenher zum Hauptberuf des Landwirtes und Almbauern. Einen Aufschwung nahm der Tourismus in Grainbach und auf dem Samerberg durch Bus-Ausflüge zum Chiemsee und nach Berchtesgaden durch den Samerberger Busunternehmer Bogenhauser. Die Landwirtschaft mitten im Dorf musste im Jahr 1972 aufgegeben werden nachdem sich ein Aussiedeln nicht rechnete. Zu den aktuellen bäuerlichen Entwicklungen meint Xaver Stadler: „Kleine Betriebe, die wegen der Anbindehaltung neu bauen müssen, können sich das nicht leisten und müssen deshalb aufhören. Aber ein Bauer findet immer Arbeit, auch wenn das Aufhören weh tut“.
Mit Leidenschaft beim Trachtenverein und bei der Blasmusik
Viel bedeutet haben Xaver Stadler der Trachtenverein Hochries-Samerberg, dem er mit 18 Jahren beitrat und dem er somit schon 72 Jahre angehört. Eine ganz besondere Liebe gehörte der Blasmusik, bereits ab 1938 fuhr er mit dem Radl nach Rosenheim zum Erlernen von Klarinette und Geige. Anfangs war er aktiv bei der Stadtkapelle Rosenheim, mit 14 Jahren wechselte er zur Samerberger Musikkapelle. Nach dem Krieg wurde bei Hartl Braun in Wiedholz geprobt, dazu fanden sich u.a. Musikanten aus Grainbach, Höhenmoos und Achenmühle ein, aus diesen wurde dann die Musikkapelle Samerberg zusammengestellt. 1962 übernahm er als Dirigent die Samerberger Kapelle ehe er diese Aufgabe 1972 an seinen Sohn Xare weitergab.
Freude bereiteten Xaver Stadler die vielen Glückwünsche und persönlichen Gratulationen zu seinem 100. Geburtstag, besonders als ihm die Samerberger Musikanten den von ihm gewünschten Heimatland-Marsch und die Bayernhymne spielten. Eine aussergewöhnliche Freude war es ihm, dass er mit Hilfe seiner Familie seine ehemalige Schulkollegin und Nachbarin Maria Wörndl vom Gasthof Alpenrose besuchen durfte. Frau Wörndl konnte wenige Wochen vor ihm in ebenfalls guter gesundheitlicher und geistiger Verfassung ihren 100. Geburtstag feiern. Nach den doch lebhaften Tagen rund um seinen Geburtstag ist es wieder ruhiger, dann hat Xaver Stadler wieder mehr Zeit für seine Kreuzworträtsel und für das Schafkopfen.
Fotos: Hötzelsperger – Eindrücke vom Besuch bei Xaver Stadler, unter anderem mit der blechernen Zigarettenschachtel, die ihm im Krieg das Leben rettete.
Fotos: Rainer Nitzsche – a) Zigarettendose und Gratulationen der Musikkapelle Samerberg sowie von Bürgermeister Georg Huber und Diakon Günter Schmitzberger.