In der Schweiz läuft es gut mit dem Herdenschutz, das ist eine bekannte Aussage von Wolfsbefürwortern. Wir haben mit Marcel Züger, einem fundierten Kenner der Schweizer Wolfssituation, ein Interview geführt. Er ist Dipl. Biologe der ETH Zürich und Inhaber eines Ökobüros in Salouf im Kanton Graubünden (Teil 1 ist zu lesen bei Eingabe des Stichwortes Herdenschutz).
Welche Auswirkungen hat der Wolf auf die Almwirtschaft? Züger: Er erschwert ausgerechnet die naturnaheste Form der Landbewirtschaftung, und das gerade in jenen Gebieten, die für die Biodiversität besonders wichtig sind. Dem Tierwohl wird im Berggebiet besonders gut entsprochen. Der Wolf treibt die Entwicklung jetzt genau in die gegenteilige Richtung. Ohne rigorose Eingriffe wird die naturnahe Alm- und Berglandwirtschaft grosse Verluste erfahren. Die Entwicklung geht rasend schnell. Wenn wir nicht subito handeln, werden wir viel verlieren.
Die alpine Kulturlandschaft wurde über viele Jahrhunderte erschaffen und gepflegt. Mit unvorstellbarem Aufwand und enormen Entbehrungen. Die mitteleuropäische Alpwirtschaft ist weltweit einzigartig, eben weil überall sonst Grossraubtiere vorkommen. Nirgendwo sonst kann die Beweidung so gezielt gelenkt werden, dass die Nutztiere optimal ernährt werden und gleichzeitig die Biodiversität maximal profitiert. Graubünden hat rund 13 000 ha Trockenstandorte, die zum allergrössten Teil durch Mahd oder Beweidung entstanden sind und erhalten werden. Das sind 1.3 Milliarden m²! Die Bündner Bauern bewirtschaften etwa 85 000 ha BFF-Fläche. Das ist fast die Hälfte der landwirtschaftlich genutzten Fläche. Die ökologisch wertvollsten Flächen sind auch die aufwändigsten. Und sie liefern das schlechteste Futter. Dieser Mehraufwand wird in der Schweiz abgegolten. Kommt aber der Faktor Wolf hinzu, sind diese Flächen ernsthaft bedroht. Da reichen auch die Anreize über die Dir ktzahlungen nicht aus. Mir ist die Artenvielfallt wichtig und ich finde den Wolf faszinierend, wir können aber nicht eine einzelne Art auf Kosten von tausenden Arten etablieren. Es wird oft so getan, als ginge es nur um Schafe. Diese sind beileibe nicht zu vernachlässigen: Etwa 2 500 ha Trockenstandorte werden in der Schweiz mit Schafen gepflegt. Betroffen sind aber auch alle anderen Tierhalter mit Pferden, Milch- oder Mutterkühen. Wo weniger Tiere sind, braucht es auch weniger Futter – also werden auch die Blumenwiesen nicht mehr gepflegt.
Wie geht es dem Alppersonal in dieser hoffnungslos wirkenden Situation? Züger: Viele Hirten und Tierhalter laufen physisch und psychisch am Limit. Speziell die Schafhirten werden richtiggehend aufgerieben. Vielerorts werden die Schafe in gesicherte Nachtpferche gebracht. Im Sommer sollten die Tiere mit dem ersten Licht rausgelassen und mit dem letzten reingebracht werden. Es müssen täglich riesige Distanzen in unwegsamem Gebiet zurückgelegt werden, die Arbeitszeiten gehen ins Unermessliche. Das belastet die Hirten, die Hirtenhunde und auch die Schafe. Und ständig die Anspannung: Gab es eine Unachtsamkeit? Haben die Wölfe gar den Zaun überwunden? Es gab übrigens auch schon Risse, als die Schafe aus der Koppel gelassen wurden. In Frankreich haben sich die Angriffe in den Tag verlagert, nachdem die Schafe nachts geschützt waren. Gerade die besten, zuverlässigsten Hirten gehen richtiggehend kaputt. Es ist für sie frustrierend: Sie arbeiten für einem bescheidenen Lohn, bekommen noch mehr Arbeit, verlieren ihre Tiere auf grausame Weise und um sie herum wird das Geld sinnlos mit vollen Händen hinausgeworfen.
Wie sehen Sie die Zukunft des Wolfes in der Schweiz? Züger: Ich denke, es ist möglich, in der Schweiz maximal zwölf Wolfsrudel zu managen; unauffällige Rudel, verteilt auf das ganze Land. Diese Rudel müsste man eng begleiten, die Tiere mit Sendern ausstatten, sie beobachten und laufend «erziehen». Für die Kantone Graubünden, Glarus, Wallis und Waadt würde dies bedeuten, dass es jeweils nur noch ein Rudel gäbe. Der Aufwand wäre enorm, aber noch immer kleiner als mit der ungelenkten Wolfsschwemme. Für den Wolf bräuchte es eigentlich grosse, unberührte Landschaften. Die haben wir nicht. Man muss ehrlich sein: Das gab es noch nie, dass Wölfe in eine so eng strukturierte Landschaft wie die Schweiz integriert wurden. Mit schweizerischer Präzision halte ich es dennoch für möglich. Wenn es nicht gelingt, dann muss man das Projekt Wolf in der Schweiz als gescheitert betrachten.
Was, wenn man nicht so vorgeht? Züger: Es wird einen Flächenbrand geben, dem wir nicht mehr Herr werden. Das erste Opfer wird die Artenvielfalt des Kulturlandes sein. Die intensivere Landwirtschaft kann sich besser mit den Wölfen arrangieren als die extensive. Viele Erfolge, die zugunsten seltener Vögel, Pflanzen und Insekten im Kulturland erarbeitet wurden, werden innert Kürze pulverisiert. Die Auswirkungen werden über die Landwirtschaft hinausgehen. Die Besiedlung der Talschaften ist abhängig von einem fragilen Netzwerk aus Land-, Alp- und Forstwirtschaft, Jagd, Tourismus und dem Gewerbe. Nur mit diesem Wechselspiel bleibt die vielfältige Kulturlandschaft lebendig, diese Landschaft, wofür Touristen aus der ganzen Welt anreisen. Die Landschaft und Natur werden nicht mehr frei zugänglich sein, man wird nicht mehr einfach unbekümmert rausgehen und geniessen können. Noch wichtiger als die eigentliche Wolfspräsenz sind ihre Folgen: aggressive Herdenschutzhunde und angriffige Mutterkühe. Aber auch die unmittelbare Gefahr kann nicht negiert werden. Es gibt bereits jetzt Regionen, wo die Leute nicht mehr ruhigen Gewissens im Wald Pilze suchen gehen, auf Ausritte verzichten, nicht mehr in der Dämmerung unterwegs sind. Für den Menschen sehe ich derzeit noch keine akute Gefahr. Wenn die Entwicklung so weitergeht, wird sich das schon bald ändern. Die Wolfsfreunde spielen die Begegnungen zwischen Wolf und Mensch herunter. Im letzten Sommer wurde eine Hirtin zwei Mal von Wölfen bedroht. Sie hat zum Glück richtig reagiert und ist gefasst geblieben. Ich mag mir aber nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn sie die Nerven verloren hätte, davongerannt und den Beutetrieb der Wölfe geweckt hätte. Im Berggebiet ist man es gewohnt, dass im Winter die Hirsche bis in die Siedlungen und Dörfer kommen. Die Wölfe folgen ihnen nach. Letzten Winter gab es mehrere Hirschrisse direkt neben Häusern und an verschiedenen Orten hat man Wölfe auch direkt vor dem Stall gehabt. Auf dem Land leben bedeutet, auf manche urbane Bequemlichkeit zu verzichten. Der Gegenwert liegt in der Freiheit, in Erlebnissen, die in der Stadt keinen Platz haben. Diese Vorteile werden den Wölfen geopfert.
Vielen Dank für Ihre interessanten Ausführungen, Herr Züger. Uns in Bayern bleibt momentan nur noch die Hoffnung, dass die Politik die verheerende Situation endlich anerkennt und genug Rückgrat zeigt, längst fällige Entscheidungen zu treffen.
Almwirtschaftlicher Verein Oberbayern – www.almwirtschaft.net
Fotos: Marcel Züger – u.a. Pferde und Jungrind nach Wolfsbissen