Leitartikel

Priener Vertriebenen-Erinnerungen

Veröffentlicht von Anton Hötzelsperger

 Wenn Anna Krauss am 21. Juni diesen Jahres ihren 83. Geburtstag feiert, dann feiert sie diesen in mehrfacher Weise. Denn am eben diesen 21. Juni 1947, also vor nunmehr 75 Jahren kam sie bei ihrem Vater, der Knecht auf einem Bauernhof in Halfing war, an und es begann ein neues Leben nachdem sie mit ihren Brüdern und ihrer Mutter sowie mit ihren Großeltern aus dem Sudetengau im Egerland vertrieben war. Auf abenteuerliche Weise kam sie in Halfing an. Davon und von vielen Erinnerungen berichtet sie in ihrem 1989 von Sohn Helmut erbauten Haus in Prien-Atzing. Bis es jedoch zum Einzug im eigenen Haus kam, war die Heimatvertriebene viel und entbehrungsreich unterwegs.

Wenn schon weit über 100 Tage der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wütet, dann haben die Erinnerungen von Anni Krauß eine besondere Bedeutung. Allein zwei Gegenstände sind es, die ihr von ihrer alten Heimat  im Dorf Prahn im Kreis Komotau geblieben sind: eine Aufnahme der Häuseranordnung mit landwirtschaftlicher Ausrichtung (wobei ihr Geburtshaus ganz rechts ist) und einmal ein Foto, das sie bei einem Besuch 1966 machte und arg enttäuscht heimkehrte, denn die tschechischen Besatzer ließen im kommunistischen Regime das landwirtschaftliche Gebäude verfallen. Aber der Reihe nach: Anna Krauß, geborene Heller, kam 1939 zur Welt und wuchs mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder Helmut und ihrem Zwillingsbruder Ferdinand in Prahn auf. Im Alter von fünfeinhalb Jahren marschierten die Russen ins tschechische Land ein, dazu weiß sie: „In Erinnerung von meiner damaligen Kindheit bleiben mir die weiten und von Mohn roten Getreidefelder und die Schrecken, wenn die Russen mit ihren Pferden einmarschierten. Die Frauen versteckten sich in der Nacht vor den gefürchteten Vergewaltigern und tagsüber machten sie ihre Stallarbeit“. Innerhalb kürzester Zeit mussten sie ohne Vorwarnung Haus und Hof mit den wenigen Habseligkeiten verlassen und sie wurden mit weiteren Kindern, Frauen und alten Leuten in einem Nachbar-Gebäude zusammengetrieben. Mit dabei waren auch die Großeltern väterlicherseits, Papa war schon lange im Krieg. Nur einmal in den Kriegsjahren konnten die drei Geschwister ihren Papa von einem Fronturlaub sehen beziehungsweise der Papa seine Kinder.

Mit Holzvergaser-Auto ging es nach Nirgendwo

Vom Lager im Heimatort ging es wenige Tage später mit einem alten Holzvergaser-Auto weiter ohne zu wissen wohin die Reise geht. Die Ankunft war dann in einer Station mit Baracke und Stacheldraht. Dort waren sie dann einige Monate, daraufhin ging es wieder zurück ins eigene Dorf, aber nicht ins eigene Haus. Und das mit weniger guten Erinnerungen, weil die inzwischen eingezogenen tschechischen Familien und auch deren Kinder die vormaligen Bewohner anfeindeten. Einmal  holten die Nachbarn ihre Mutter, weil die neuen Bewohner mit der Landwirtschaft (Kühe, einen Ochsen, ein Pferd, einen Saustall, Hühner – alles zur Eigenversorgung) nicht so recht zurecht kamen und da musste sie beim Schlachten helfen, dazu weiß sie: „Sie hat für ihre Arbeit nichts bekommen, aber sie konnte in ihren Stiefeln zwei Stück Fleisch verstecken und nach Hause retten.  Nach ein paar Wochen ging es wieder nach Nirgendwo in Richtung Königsgrätz. Die Fahrt mit einem Zug in einem Viehwagen  war für die inzwischen fast Sechsjährige schlimm, sie erinnert sich: „Wir haben nicht gewusst, wo man ist, es hat fürchterlich gestunken, Frauen mit Babies waren eng gepfercht im Wagen, es gab nichts zu Essen und wenn die Lok zum Wassertanken abgekoppelt wurde, dann sind wir lange ohne Versorgung gestanden. Wie lange wir unterwegs waren oder wieviele Tage es waren, das weiß ich nicht mehr“.

Nächste Station Thüringer und erster Schulbeginn

Dann ging es wie folgt weiter: „Die nächste Station war der große Ort Gotha in Thüringen, dort wurden wir von der Gemeinde in kleine Wohnungen verteilt, wir hatten einen Garten mit Obstbäume, Opa und Oma waren auch noch dabei und dort gingen wir drei in die Schule. Im Spätherbst begann die Mutter mit Hilfe des Roten Kreuzes die Suche nach ihrem Ehemann und dem Vater ihrer Kinder. Eine eigene Wohnung und feste, neue  Bleibe zu finden, war schwierig, denn eine Mutter mit zwei alten Leuten und drei kleinen Kindern, wer hat hier schon Platz? Das Handicap vor Augen und den Vater suchend wagte sich die Mutter auf eigene Faust über die Grenze, da sie in Erfahrung bringen konnte, dass ihr Mann in Bad Aibling im Lazarett ist. Während sie noch abenteuerlich über die Grenze, zu Fuß und zum Teil mit der Bahn (mit dem wenigen Geld) unterwegs war, bekam sie die Information, dass ihr Mann inzwischen bei einem Bauern in Halfing im Landkreis Rosenheim untergekommen ist. Tatsächlich hat sie ihn in Halfing nach langem Unterwegssein „Beim Donisl“ als Knecht gefunden. Dort hatte er einen guten Platz und die Bauern einen guten Knecht, da er ja selbst aus landwirtschaftlichen Tätigkeiten kam. Nach vier Wochen war die Mutter – es wurde schon Winter – wieder zurück bei ihren Kindern und ihren Eltern und sie schmiedeten wieder neue Pläne.

„Papa ist im Chiemgau, wir müssen über die Grenze!“

Wieder daheim, wusste die Familie, wo Papa ist, Opa und Oma waren schon alt und hatten inzwischen ihre Tochter in nicht weiter Entfernung ausfindig gemacht und so entschieden sie, dass sie zu dieser gehen werden während sich die Mutter mit den drei Kindern wagte, die Flucht über die Grenze in Richtung Bayern zu planen. Das bedeutete einen schmerzhaften Abschied für immer.  Hierzu weiß Anni Krauß: „Wir machten uns bei Nacht und Stille auf den Weg über die grüne Wiese, dabei lernten wir eine weitere Frau kennen, die ebenfalls abhauen wollte. In der ersten Nacht wurden wir erwischt, kamen in eine Hütte und wurden verwarnt. Es wurde uns gedroht, dass die Russen schießen werden. Dennoch wagte es meine Mutter eine Nacht später wieder mit uns, wir wurden auch wahrgenommen, es wurde auch geschossen, aber wir kamen heil über die Grenze. Die andere Frau verabschiedete sich hernach von uns, denn ihr Ziel war in eine andere Richtung“. Die nächste Entscheidung war, sich entlang von Bahngleisen zu bewegen, weil man dann bestimmt einmal an einem Bahnhof ankommt. Allerdings war man sich nicht sicher, ob die Richtung stimmt. Als sie dann eines nachts und schweigsam auf einen Bahn-Streckengeher stießen rief dieser aus der Ferne zu „Keine Angst“ und es kam zur glücklichen Ankunft am Bahnhof in Weiden in der Oberpfalz. Dort herrschte ein gewaltiges Gewitter und dann ging es weiter nach München und von dort nach Rosenheim. Von Rosenheim ging es mit den geringen Habseligkeiten und mit dem, was man am Leib hatte, zu Fuß nach Halfing. Dort angekommen beim Ehemann und Vater war der 21. Juni 1947 – der 8. Geburtstag der Zwillinge. Doch die Aufregung war groß beim eh schon rappelvollen Bauernhof. Und so konnte die Mutter mit ihren drei Kindern nur eine Übernachtung bleiben und es ging wieder zurück nach Rosenheim zur dortigen großen Verteilungsstelle.

Von Rosenheimer Verteilungsstelle nach Wildenwart-Brandenberg

Als die   Heller-Kinder in Rosenheim waren, bekamen sie sonntags Besuch von ihrem Vater, nach kurzer Zeit kamen Mutter und Kinder über die Verteilungsaktion in die ehemaligen Gemeinde Wildenwart und fanden ein neues, vorübergehendes Zuhause auf dem Schmeizlhof in Brandenberg. Als Papa Heller 1948 als Hilfsarbeiter Arbeit auf der Herreninsel fand, kam er auch zu seiner Familie. Die Zeit beim Schmeizlhof hat Anni Krauß in angenehmer Erinnerung, dazu erzählt sie: „Der Schmeizl-Wof war unser Opa, in Wildenwart wurden wir alle drei in die dritte Klasse eingeschult, weil unser älterer Bruder ja kaum Schulzeiten hatte. Wir kamen mit den Nachbarn und mit den Nachbarskindern sehr gut aus, wir gingen gemeinsam zur Schule und hatten eine schöne Zeit bis 1954. Der Vater, der in die Arbeit zur Herreninsel im Winter zu Fuß über das Eis ging und der zuweilen im Roß-Stall übernachtete, fand bald eine Anstellung bei der Priener Baufirma Voggenauer und die Mutter konnte bei der Ballfabrik in Bachham Arbeit finden. Als in Bachham eine Wohnung frei wurde, das einem gewissen Professor Strohmayer aus München gehörte, da zog die Heller-Familie von Brandenberg nach Bachham um und die Heller-Kinder begannen von dort aus die eigenen Berufswege und Familiengründungen. Mutter Heller verstarb 1990 und Vater Heller sieben Jahre später 1997.  Bruder Helmut wohnte zuletzt in Prien-Prutdorf und ist vor einem Jahr verstorben und der zweite Bruder Ferdinand wohnt in Prien.

Foto: Hötzelsperger –  Anni Krauß kurz vor ihrem 83. Geburtstag mit den einzigen gebliebenen Erinnerungen aus ihrer Egerländer Heimat.

 


Redaktion

Anton Hötzelsperger

Als freier Journalist bin ich bereits seit vielen Jahren mit der täglichen Pressearbeit für die Region Chiemsee, Samerberg und Oberbayern befasst. Mit den Samerberger Nachrichten möchte ich eine Plattform bieten für Beiträge aus den Bereichen Brauchtum, Landwirtschaft, Tourismus und Kirche, die sonst vielleicht in den Medien keinen breiten Raum bekommen würden.

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