Anlässlich des kürzlichen 40. Geburts-tages des Bayerischen Dorferneurungsprogramms führte Frau Birgit Böhm nachfolgendes Interview mit dem „Vater der bayerischen Dorferneuerung“ Holger Magel.
Herr Magel, Sie sind einer der geistigen Väter der bayerischen Dorferneuerung. Welche Ereignisse und Begegnungen aus der Anfangszeit waren besonders prägend für die ersten Jahre der Dorferneuerung?
Holger Magel (HM): Nachdem das vielen KollegInnen heute nicht mehr gegenwärtig ist, hole ich als Zeitzeuge bei dieser Frage etwas länger aus: Es gab ja schon vor mir geistige Väter der bayerischen Dorferneuerung. Nach dem Fehlschlag der heuer 50 jährigen Städtebauförderung, bei deren Start die Dörfer leer ausgegangen sind, haben Persönlichkeiten wie Wilhelm Abb, Günther Stroessner unterstützt von Minister Hans Eisenmann und vor allem Friedrich Quadflieg mit seinen Vertrauten Dieter Borges und E.Chr. Läpple an einer eigenen gesetzlichen Basis für die Dorferneu-erung gearbeitet. Dies war dann 1976 mit dem FlurbG der Fall. Ein Jahr später kam als Glücksfall das sog. Zukunftsinvestitionsprogramm (ZIP) dazu, das den ers-ten Boom der Dorferneuerung in Deutschland und Bayern brachte. Da war ich dann schon dabei. Die Dorferneuerung nach ZIP war allerdings planerisch leicht unterentwickelt und vor allem eine starke Infra- und Agrarstrukturverbesserung nach dem Geschmack der Gemeinden und Bauern. Gott sei Dank gab es aber damals schon einen herausragenden planerischen Leuchtturm: das war die mit dem deutschen Städtebaupreis ausgezeichnete Dorferneuerung Niederalteich von Matthias Reichenbach Klinke – gelenkt unter der behutsamen Führung von Präsident Hermann Krimmer. Sie war fortan ein Wallfahrtsort der bayerischen und ausländischen Politiker und Experten. Sie hat weit vernehmbar signalisiert: wenn gute Planer, aufgeschlossene Ämter und ein über den Tag und lediglich Baumassnahmen hinausdenkender Bürgermeister zusammenkommen, kann alles gut gehen – auch und gerade bei der Flurbereinigung, die dank ihrer Bodenordnungskompetenz in Dorf und Flur unvergleichliche Möglichkeiten eines fairen, vor allem wertgleichen Landmanagements hat.
Gleichzeitig zum ZIP arbeiteten wir an „unserem“ TUM Lehrstuhl im Rahmen des vom Ministerium bereits 1975 vergebenen Forschungsvorhabens an theoretischen und methodischen Grundlagen zur angestrebten ganzheitlichen Dorferneuerung. Beteiligt waren u. a. die professoralen Granden Heinz Möser, Helmut Gebhard, Günther Grzimek, Rupprecht Zapf, später auch Richard Hoisl. Die hierbei neu entwickelte Methode der Groborientierung sollte uns einige Jahre später beste Dienste erweisen, als es darum ging, eine Priorisierung der (5000) bedürftigsten unter den über 14 000 in Frage kommenden Dörfern Bayerns vorzunehmen.
Ich war also wissenschaftlich ab 1975 bis März 1978 längst mit der der Thematik Dorferneuerung beschäftigt (ich erinnere an das erste bundesdeutsche Dorferneuerungsseminar an der TUM nach Inkrafttreten des FlurbG im Frühjahr 1977) und ab April 1978 im Ministerium – anfangs noch zusammen mit Hermann Schatt – unmittelbar zuständig für das Management der ZIP Förderwelle, die aber 1980 auslief.
Hilfe kam dann von Abgeordneten wie Alois Glück, Fritz Bauereisen, Richard Wengenmeier, Herbert Hofmann etc., deren Antrag auf Schaffung einer eigenständigen bayerischen Dorferneuerung zum historischen und nun zu feiernden Beschluss vom 19. Mai 1981 führte – exakt 10 Jahre nach Geburt der Städtebauförderung!
Nun war ich gefragt: Als ersten Schritt entwarf ich nach umfangreicher Ressortabstimmung das erste Bayerische Dorferneuerungsprogramm. Dank dieser glückhaften Fügung war und wurde ich als Schöpfer, Missionar oder gar Vater (Zitat Erwin Hu-ber) der bayerischen Dorferneuerung angesehen und von Minister Eisenmann auch immer mehr ins befreundete Österreich , ja bis nach China „ausgeliehen“.
Im Dorferneuerungsprogramm, auf das sich dann bei der Abstimmung der DorfR alle anderen Ministerien, voran das Finanzministerium beriefen, konnten wir die durch die Groborientierung gefundene Zahl von 5000 Dörfern und den voraussichtlichen (viel zu niedrigen) Finanzbedarf nennen. Fortan wusste jeder Abgeordnete, wie wichtig die Dorferneuerung für den ländlichen Raum als Alternative zur Städtebauförderung war und welch hoher Geldbetrag im Haushalt bereitgestellt werden musste.
BB: Lief dann alles glatt oder gab es auch Probleme zu lösen?
HM: So groß die Zustimmung zur Dorferneuerung im Landtag war, so gering war sie anfangs noch bei den traditionellen Skeptikern oder gar Gegnern der Flurbereinigung. Sie fürchteten nun einen Kahlschlag in den Dörfern.
Fortan mussten sie geduldig überzeugt und eingebunden werden: die Heimatpfleger, Volkskundler und die einflussreichen Denkmalpfleger (Prof. Petzet, MdL Dr. Schosser, Dr. Mosel), mit denen wir immer besser zusammenkamen und schließlich eine enge fachliche Zusammenarbeit in Form des denkmalpflegerischen Erhebungsbogens vereinbarten.
Wir wussten, dass wir nur durch hohe Qualität und Interdisziplinarität überzeugen konnten. Auch die Architekten (unvergessen der SZ Karikaturist E.M. Lang als Kammerpräsident, vor dem sogar Hans Eisenmann Respekt hatte), Landschaftsplaner (Reinhard Grebe), Naturschützer (Hubert Weinzierl und Hubert Weiger) und Film- und Medienleute (Dieter Wieland, Erich Geiersberger) wollten und mussten überzeugt und gewonnen werden. Zahlreiche Fortbildungsseminare mit der Kammer (Maximilian Meinel) und die Vereinbarung, grundsätzlich alle Planungen – auch gegen den Widerstand mächtiger DLE Präsidenten – zu vergeben, brachten Unterstützung sowie höchste Qualität. Die allgegenwärtige, auch viel geschmähte (Biermösl Blosn) BayWa, die Sparkassen und Genossenschaftsbanken, der Gemeindetag und ganz besonders Ursula Peters von der SZ und Johanna Schmidt Grohe vom BR Notizbuch gehörten bald zu den mächtigen Verbündeten und einflussreichen Multiplikatoren.
Zur steigenden Akzeptanz verhalf vor allem die evolutionäre Weiterentwicklung der Dorferneuerung: ziemlich im Zweijahresrhythmus entwickelte sie sich weiter von der ursprünglich baulichen und agrarstrukturellen Erneuerung hin zur behutsam erhaltenden Dorferneuerung, weiter zur ökologischen (Stichwort Dorfökologie mit Josef Heringer und Günther Aulig), zur sozialkulturellen inkl. volkskundlichen (Eri-ka Haindl!) und nach starkem niederösterreichischen Einfluss (Erwin Pröll) zur sog. geistigen Dorferneuerung. Das geschah 1987 bei der legendären Akademietagung in Neukirchen „Was braucht das Dorf der Zukunft? Philosophie oder Geld oder beides?“. Diese Salzburger Dorftagung mit Leopold Kohr, Heribert Thallmair als Gemein-detagspräsident und Alois Glück als Umweltstaatssekretär war die Geburtsstunde der Leitbildarbeit in der bayerischen Dorferneuerung. “Small is beautiful“ und der so eingängige Spruch von Leopold Kohr „Das Dorf ist die kleine Welt, in der die große ihre Probe hält“ bildeten fortan die Motivation der bayerischen Experten – es gab keine Minderwertigkeitskomplexe gegenüber der Stadt(erneuerung) mehr! Geradezu ein Triumph war dann das Streiflicht der „Edelfeder“ des SZ Streiflichtteams Hermann Unterstöger, als er sich unnachahmlich mit den Philosophieübungen der bayerischen Dorferneuerer beschäftigte. Er hat später nochmal ein unvergessliches Streiflicht zur Namensänderung unserer Verwaltung geschrieben mit dem Aufreißersatz: „Können Behörden bereuen“?
Nach Neukirchen sollte jedes Dorf möglichst schon vor Antragstellung mit den Bürgern eine Vision oder, wie der begeisterte Dorferneuerer Alois Glück sagte, eine Realutopie erstellen und daraus das Orientierung gebende Leitbild entwickeln.
Einen unglaublich großen Einfluß auf die Beachtung der sog. immateriellen Aspekte wie identitätsstiftende Sichtbeziehungen und Fühlmale in Dorf und Landschaft hatte die von uns vergebene Forschungsarbeit und gleichnamige Schrift „Heimat – ein Ort irgendwo?“ von Erika Haindl und Prof. Wilhelm Landzettel. Ich zähle sie nach wie vor zu den wichtigsten und schönsten Schriften in meinem Bücherschrank.
Bei den teils gefürchteten Ortsterminen der ministeriellen „Dorferneuerungskommissare“ Magel, Attenberger und Geierhos war die Vorlage des Leitbilds ein „must“. Scheinbar rein zufällig, aber höchst sichtbar neben den Dorferneuerungsplänen lagen auch die einschlägigen Bücher von Glück/Magel oder Magel/Attenberger und viele Akademiebroschüren oder Hefte des Deutschen Instituts für Fernstudienforschung (DIFF) auf dem Sitzungstisch…
BB: Stimmt es, dass die Dorferneuerung einmal fast verloren gegangen wäre? Was war da los?
HM: Ja, das war ein unangenehmes Kapitel. Es gab tatsächlich einen sehr bedrohlichen, weil hochpolitischen Angriff auf die Dorferneuerung in Verantwortung der Flurbereinigungsverwaltung kurz nach dem Tod von Franz Josef Strauss im Oktober 1988, der die Dorferneuerung schätzte und sie aus eigenem Erleben in Rott am Inn kannte und sie mit reichlich Geld ausstattete. Zu viel dachte sich die Oberste Baubehörde, die dann gleich zum Generalangriff blies: unmissverständlich forderte der neue Innenminister, der schon unverkennbar den Marschallstab des künftigen MP im Tornister trug, vom höchst erschrockenen Landwirtschaftsminister Simon Nüssel die Zuständigkeit der Dorferneuerung. In seiner Argumentation fand sich nicht nur der Bezug zum Baugesetz, sondern fatalerweise auch auf einen Artikel des obersten bayerischen Flurbereinigungsrichters, in dem dieser recht eigenbrötlerisch der Flurbereinigungsverwaltung die Zuständigkeit für die Dorferneuerung absprach. Zur Erinnerung: 1971 und in den nachfolgenden Jahren interessierte sich das Innenministerium in keinster Weise für die Dorferneuerung, Ende der 80er Jahre war sie aber überaus (zu?) populär und ein Objekt der Begierde geworden!
Es bedurfte der vereinigten Kräfte des Landtags und sonstiger Netzwerke, um den Angriff abzuwehren. Besonders zu Hilfe kam uns, dass die Dorferneuerung in den Heimatorten vieler Abgeordneter und Minister erfolgreich ablief und hohe Zustimmung bei der Bevölkerung brachte.
Der Wahrheit wegen muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass es aber auch innerhalb des Ministeriums immer wieder Knatsch gab: die Landwirtschaftsverwal-tung und ihre führenden Vertreter hatten es nie verwunden, dass sie trotz früher Beschäftigung mit der Dorfsanierung in den 1960er und 70er Jahren bei der Dorferneuerung nur der kleine Partner waren. Sie versuchten immer wieder den unaufhalt-samen Trend der Dorferneuerung zu einer mehr kommunalen und nicht mehr nur landwirtschaftlichen Gesamtentwicklung aufzuhalten oder gar via Bauernverband zu hintertreiben. Dann hörte man plötzlich die Klage, wonach die Dorferneuerung den Bauern das ihnen zustehende Geld wegnehme. Jede Fortschreibung der DorfR wurde zu einem zähen und intrigenreichen Machtkampf. Der Gipfel des Vorwurfs an mich war: „Sie mit Ihrer Kommunalfreundlichkeit. Sie müssen doch für unsere Bauern sein.“ Meine Argumentation, wonach erst ein erneuertes und zukunftsfestes Dorf auch für die bäuerlichen Familien und Jugend Zukunft eröffne, wurde nur widerwillig angenommen.
BB: Haben Ihnen Ihre Akademie- sowie sonstigen bundes- und europaweiten Tätigkeiten geholfen?
HM: Eindeutig ja: zu den Pluspunkten unseres „Bayerischen Wegs der Dorferneue-rung“ gehörte die nahezu parallele Unterstützung aller fachlichen Schritte und Neuerungen durch die Akademie ländlicher Raum sowie mein über 10 jähriger Vorsitz im Arbeitskreis Dorferneuerung der ArgeFlurb und im Vorstand der von mir mitbe-gründeten Europ. Arge Landentwicklung und Dorferneuerung. Die Gründungsver-sammlung dieser Arge in Freising im Mai 1989 war eine eindeutige Bestätigung für den hohen Rang der bayerischen Dorferneuerung. Dieser wurde nachfolgend durch die Verleihung des Europäischen Dorferneuerungspreises an die Dorferneuerung Illschwang (mit Bgm. Karl Burger, Architektin Dr. Gabriele von Grunelius-Ishak und Vorsitzenden Dr. Albert Heinzlmeir und Maximilian Geierhos) eindrucksvoll gestärkt. Wir waren stolz auf das Erreichte, haben aber in den vorgenannten Gremien schnell erkannt, dass wir auch von anderen Ländern und Verwaltungen viel lernen konnten; z. B. von Hessen (MR Reisch, Klaus Schüttler) und BW (LMR E. Zillenbiller, H.J. Fast-nacht), die ja eine längere Dorferneuerungsgeschichte hatten und schon viel früher ausserlandwirtschaftlicher und z. T. regionaler dachten und förderten, aber auch von Niederösterreich (Motto „Ohne Musi ka Geld“), der Schweiz (Theo Abt`s bei der Fachtagung 1990 in Passau viele KollegInnen an- und aufrührenden Botschaft vom „Fortschritt ohne Seelenverlust“) und Luxemburg (hier besonders der denkmalpfle-gerischen Dorferneuerung dank Georges Calteux), erst viel später dann auch von Vor-arlberg (Arch. Roland Gnaiger), hier im Bereich der modernen ländlichen Architektur.
BB: Die Bürgerbeteiligung ist der Markenkern der Dorferneuerung. Die Dorfer-neuerung hat sich in den vergangenen 40 Jahren thematisch weiterentwickelt. Welche Inhalte sehen Sie als zentral an?
HM: Die Bürgerbeteiligung ist sicher das A und O der Dorferneuerung, eigentlich ja jeder Planung. Wir haben sie in den ersten Jahren des Dorferneuerungsprogramms methodisch neu entwickelt, denn bisher praktizierten wir wie alle anderen eher eine Bürgerinformation. Prof. Elmar Zepf und sein Team, darunter unser späterer Kollege Peter Jahnke, hat mit seiner von uns in Auftrag gegebenen Dorfwerkstatt ein mittleres Erdbeben verursacht, denn er stellte das Konzept der alleinigen TG Zuständigkeit infrage und forderte die Beteiligung aller Bürger und nicht nur der Eigentümer; 1984 veranstaltete die Akademie dazu das erste Seminar „Bürgerbeteiligung in der Dorferneuerung“- ausgerechnet in der Höhle des Löwen, in Ansbach. Wir wussten, wenn wir Fritz Ringler, den allmächtigen und bis dahin erfolgreichsten Dorferneuerungspräsidenten hinter uns bringen würden, haben wir gewonnen.
Der blitzgescheite Ringler wusste längst wie auch sein dorferneuerungsbegeisterter Kollege Hermann Krimmer, wo die Zukunft lag. Mit seinem Ja gab es kein Zurück mehr zur TG Lösung. Alois Glück sollte später immer wieder sagen: die Flurberei-nigungsverwaltung sei die erste Verwaltung in Bayern gewesen, die eine aktive Bürgerbeteiligung im Sinne seiner Jahre später propagierten Aktiven Bürgergesellschaft und Neuen Verantwortungsgemeinschaft eingeführt habe. Es dauerte dann nicht mehr lange, bis das bayerische AGFlurbG geändert und die Gemeinde als gesetztes Mitglied im Vorstand der TG etabliert wurde. Damit war endgültig klar: alle Gemeindebürger sind von der Dorferneuerung betroffen und angesprochen. Das österreichische „Mitmachen wollen, mitmachen dürfen und mitmachen können“ wurde auch zum Mantra der bayerischen Dorferneuerung. Zur höchsten Blüte und zu einer besonders ausgereiften Methodik hat Bgm. Michael Pelzer die aktive Bürgerbeteiligung im Modell- und Expodorf Weyarn gebracht.
BB: Mitmachen können – aber wie?
HM: Darauf gab die Gründung der drei bayerischen Schulen der Dorf- und Landentwicklung die Antwort: man kann das lernen und im Team trainieren und anwenden. Zusammen mit Pionieren wie Georg Simnacher, Albert Löhner und Edgar Sitzmann gelang dieser Geniestreich! Im Ministerium jubelte man zunächst nicht und wollte eher bremsen; man befürchtete eine Konkurrenz zu den damals schon gefährdeten Landwirtschafts- und zu den Landvolkshochschulen. Großer Dank gilt dem damali-gen „Finanzminister“ unserer Verwaltung Hermann Schatt, der die rasch stark nachgefragten und bundesweit bewunderten Schulen auf finanziell sichere Beine stellen konnte. Die Erfolgsgeschichte hält bis heute an – alle führenden Flurbereinigungs-und Dorferneuerungsvertreter mit mir, Josef Attenberger und Max Geierhos begonnen über Peter Jahnke bis hin zu Leo Rill haben begeistert an den Schulen mitgewirkt. Heute kann ich geehrt und vielfach bestätigt lächelnd auf diese belastenden Kleinkriege zurückblicken, aber damals ging mir das schon ziemlich an die Nieren, wenn der eigene Minister, Amts- und Abteilungschef attackierten und sich von meinen Ideen und Aktionen distanzierten.
BB: Was ist daneben fachlich und konzeptionell – methodisch zentral wichtig geworden?
HM: Bürgerbeteiligung als Markenkern war das eine, das andere war immer eine durchdachte Dorferneuerungskonzeption mit Vision, Leitbild und Gesamtplan als alle verbindende Idee, denen nachfolgend thematisch und zwar möglichst umfassend die Einzelplanungen und Maßnahmen folgen sollten.
Als „unique selling point“ gab es den Vorteil der „Planung und Ausführung in einer Hand“, sprich mithilfe der Planfeststellung bzw. Plangenehmigung nach FlurbG konnten alle rechtlichen und finanziellen sowie die bodenordnerischen Aspekte zum Vorteil aller, auch der Gemeinden, abgewickelt werden. Das war immer der Schwach-punkt bei der Stadtsanierung!
Diesen Vorteil hat man mit der Einführung und Loslösung der einfachen Dorferneu-erung vom FlurbG aufgegeben, auch die Gesamtsicht, außer man macht vorher eine Gemeindeentwicklung oder eine ILE. Gott sei Dank ist aber die Bürgerbeteiligung geblieben, obwohl gerade sie der Stein des Anstosses für Minister Reinhold Bocklet war, als er die einfache Dorferneuerung im Zuge des Reformkonzepts 1996 durchdrückte: er wollte keine „ausufernden“ Bürgerbeteiligungen und Dorfphilosophien. Die Bürgermeister der einfachen Dorferneuerung haben ihn aber schnell korrigiert, und Bocklet hat es akzeptiert.
Ich musste lernen anzuerkennen, dass in den auslaufenden 90er Jahren die Zeit der großen Planungsentwürfe zu Ende ging und man sich, etwas müde geworden, auf kleinteiligere, quartiersbezogene und inkrementelle Planungen zurückzog. Die einfache Dorferneuerung war da nur ein frühes Beispiel. Hinzu kam, dass die Verwaltung bei der Reform trotz großen Erfolgen bei der Beibehaltung bzw. Arrondierung ihrer Aufgaben einen schweren personellen Aderlass hinnehmen musste. Ein weiter so wie bisher konnte es deshalb nicht mehr geben.
Immerhin hielt man aber die Tür für größere Planungen in einer umfassenden Dorferneuerung offen, wie man sie auch gerade jetzt weiterhin braucht – trotz Konzentration auf Ortskernentwicklung bzw. -innenentwicklung. Im Zeichen der Gleichwertigkeitsdiskussion benötigen wir größere (Ent)Würfe für die Dörfer und Regionen. Wie sonst will man die vielkritisierte Außenrandbebauung nach 13b BauGB, die unorganische Ansiedlung von Gewerbe im Außenbereich oder die Ansiedlung von Unternehmen in den Griff bekommen, wenn nicht durch eine Gesamtsicht und Gesamtkonzepte, am besten im Rahmen von Ortsentwicklungs- oder ILE Konzepten, deren innerster Kern die Dorferneuerung bleibt. Immerhin ist die bayerische ILE vor dem ELER aus der Regionalen Landentwicklung Auerberg entstanden, bei der sich mehrere Dörfer mit Weitblick gegen den Widerstand der Bezirksregierungen zusammengeschlossen haben. Ich durfte damals die „Hebamme“ des neuen Kindes spielen. An der TUM habe ich im Auftrag der Abteilung E mit meinem Team, voran Huberta Bock, zusammen mit Prof. Auweck und Andreas Raab das methodische Konzept zur Regionalen Landentwicklung („Dorferneuerung im Verbund“) weiterentwickelt. Dessen stark kommunalbezogenen Ansatz haben dann Wolfgang Ewald und Peter Jahnke nach schwierigen Verhandlungen in das neue Konzept der ILE umgeformt.
Unabhängig von wechselnden Prioritäten, von denen der bauliche und ökonomische Leerstand zur Zeit besonders hervorsticht, muss die Dorferneuerung, wenn sie die städtebauliche und strukturelle Alternative zur Stadterneuerung sein will, die Verbesserung aller Daseinsgrundfunktionen im Auge haben. Natürlich kann das nicht allein aus Dorferneuerungsmitteln geschultert werden, aber das Konzept, ob in Form einer vorausgehenden Gemeindeentwicklung, eines ILEK oder anderer regionaler Entwicklungsplanungen, sollte schon vorliegen, bevor man sich Stück für Stück ab-und durcharbeitet. Dabei darf die heute stark unter Druck stehende Landschaft nicht vergessen werden – ihr Wandel und ihre Schäden sind mindestens so schwerwiegend wie die im Dorf. Ich leide und kämpfe hier nach wie vor an vorderster Akademiefront, denn gerade auch vom Gesichtspunkt der Dorferneuerung her müssen wir für einen maßvolleren Umgang mit der Fläche und für die Schonung unserer Landschaften, Arten und Biodiversität eintreten.
Hier sollte die Dorferneuerung wieder gezielter die Partnerschaft mit der Akademie und deren breiten Netzwerken suchen. Der hochkompetente BZA kann da eine wichtige Brückenfunktion wahrnehmen.
BB: Sie kennen auch die Dorferneuerung in anderen Bundesländern und im europäischen Ausland. Was zeichnet die bayerische Dorferneuerung im Ver-gleich aus Ihrer Sicht besonders aus?
HM: Bayern hat im Gegensatz zu anderen Ländern die ILE bewusst als interkommu-nalen Ansatz unterhalb der Landkreiskulisse von Leader gesetzt. Die Verwaltung für Ländliche Entwicklung nutzt damit die Vorteile beider Entwicklungsansätze zur Lösung der Herausforderungenauf der jeweiligen Ebene: gemeindebezogen über Dorferneuerung und ILE; regionalbezogen über Leader.
Wie schon kurz erwähnt zeichnet die bayerische Dorferneuerung die enge Verbindung von Planung und Umsetzung aus. Man konnte und kann davon ausgehen, dass der Dorferneuerungsplan realisiert wird. Auch das ist anderswo nicht so konsequent der Fall.
Auch einige methodische Highlights wie der sogar in China nachgefragte Vitalitätscheck oder der Demographieleitfaden und ganz hervorstechend die Initiative Heimat Unternehmen wären anzuführen. Ich kann mir vorstellen, dass gerade „HeimatUnternehmen“ der für dieses Thema besonders aufgeschlossenen Ministerin Michaela Kaniber ein beson-deres Anliegen ist.
Erwähnenswert sind natürlich die neueren Initiativen zur Digitalisierung, erneuerbaren Energiegewinnung, Wiederbelebung von Dorfläden, Förderung von Kleinstunternehmen, ganz besonders natürlich die schwierigen, einen langen Atem erfordernden Konzepte zur Resilienzstärkung im Zeichen des Klimawandels.
Ich sehe, dass die bayerische Dorferneuerung hier wissenschaftlich, konzeptionell und organisatorisch an vorderster Stelle kämpft. Ein besonderes Schmankerl sind auch die Initiativen zum alters- und generationengerechten und zugleich flächensparenden Wohnungsbau, wie das in Kirchanschöring bestaunt werden kann, dann auch noch unter dem Label Gemeinwohlökonomie!! Mich freut, dass auch hier die Tradition der engen Zusammenarbeit meiner Nachfolger Schulze, Jahnke, Rill und Böhm mit der Wissenschaft fortgeführt wird und die Verschmelzung mit der ILE z. B. im Hofheimer Land oder im Werntal dank der Impulse von Wolfgang Ewald und Roland Spiller in Zusammenarbeit mit den Ämtern große Erfolge beim Flächensparen und der Wiederbelebung der Ortsmitten zeitigt.
Im Vergleich zu anderen Ländern im In- und Ausland sind die Unterschiede sicherlich geringer geworden. Die anderen Länder haben aufgeholt. Vielleicht muss man aber der bayerischen Dorferneuerung zugestehen, dass sie aufgrund des enormen Gefälles zwischen einigen reichen Ballungsräumen und den strukturschwächeren Regionen vor besonders großen, vielleicht sogar größeren Herausforderungen als an-derswo steht. Hierüber habe ich zusammen mit BZA Mitarbeiterin Nina Kiehlbrei und Akademiegeschäftsführerin Silke Franke auf Grundlage einer großen Umfrage in der Verwaltung wie auch bei Landes- und Kommunalpolitikern und Wirtschaftsführern vor 2 Jahren ausführlich geschrieben (siehe „Der Traum vom gleichwertigen Bayern. Experten aus Landespolitik, Kommunen und Landentwicklung antworten auf zentrale Fragen der Land-Politik“ in DVW Bayern Mitteilungen Heft 4 /2019). Überall aber, wo neues innovatives zum Zug kommt, ent- und besteht Aufbruchstimmung auf dem Lande!
Schließlich zeichnet die bayerische Dorferneuerung die Nähe zum FlurbG und damit zur Bodenordnung aus. Immerhin gibt es auch heute noch hunderte solcher Verfahren, ob aufs Dorf begrenzt oder mit Flurneuordnung. Auch da steht Bayern ziemlich einzig in Deutschland und Europa da!
BB: Was wünschen Sie der Dorferneuerung für die nächsten Jahre?
HM: Ich hatte ja an der TUM noch das besondere Glück, mit meinem Team und hier vor allem mit Dr. Anne Ritzinger, heute BZA Mitarbeiterin, im Auftrag des Ministeriums (Leonhard Rill) und des BZA (Beatrix Drago) die mir sehr am Herzen liegende Forschungsarbeit „Dorferneuerung 2020“ abzuschließen. Damit machte mir das Ministerium eine sehr große Freude, schloß sich doch damit der Kreis von der wissenschaftlichen Beteiligung am ersten großen (auch in Deutschland!) Forschungs-vorhaben „Grundlagen der Dorferneuerung in der Flurbereinigung“ in den 1970er Jahren hin zur ambitionierten Arbeit „Dorferneuerung 2020 – Zukunftskonzeption und -strategien der Dorferneuerung in Bayern“ über 30 Jahre später. Darin wurde schon viel beschrieben, was heute Realität in der Praxis ist.
Heute wünsche ich der Dorferneuerung und mir, dass die Verwaltung für Ländliche Entwicklung mithilft, dass das in der Enquetekommission „Gleichwertige Lebensbedingungen in ganz Bayern“ von mir, Prof. Miosga und Roland Spiller präsentierte Konzept der Räumlichen Gerechtigkeit methodisch weiterentwickelt und praxisreif gemacht wird. Dies wäre eine wichtige Fortsetzung methodischer Arbeiten, von der einstigen Methode der Groborientierung begonnen über den so erfolgreichen Vitalitätscheck hin zu einem Check der räumlichen Gerechtigkeit.
Ohne auf den Gleichwertigkeitscheck des Bundes warten zu müssen, könnte die Verwaltung mit dem eigenen Modell der räumlichen Gerechtigkeit objektiv(er) Aussagen treffen über den status quo, relativen und absoluten Erneuerungsbedarf und den erreichten Stand ex post.
Daneben wünsche ich der Dorferneuerung, dass sie weiterhin unbehelligt von Res-sortstreit oder Neid (siehe frühere Zeiten) mit vielen Partnern – darunter auch jenen vom Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ oder der Landesentwicklung – ihre wichtige Tätigkeit fortführen kann und dabei tatsächlich nicht als billiger und schneller Geldgeber betrachtet wird, sondern als echte grundlegende und auf den Grund gehende Struktur- und Entwicklungsmaßnahme zur Erreichung möglichst gleichwertiger Lebensbedingungen. Denn das ist das alles überragende Ziel. Dies erfordert viel geistige, planerische und kommunikative (Überzeugungs)Arbeit und eine hervorragende Aus- und Fortbildung!
Ich meine also, dass die Dorferneuerung ihre Beratungsarbeit für Gemeinden, Bauherren, Unternehmer und Bürger intensivieren können sollte. Die Abschaffung der Ortsplanungsstellen im Stoiberschen Reformrausch und die ständigen Änderungen der Bauordnung haben tiefe Krater gerissen in die Planungsqualität der ländlichen Gemeinden. Sie zeigen sich in der Verschlechterung oder Trivialisierung der ländlichen Baukultur sowie in der Verhässlichung der Landschaften.
Die Verwaltung für Ländliche Entwicklung sollte in diese Lücke springen und mithel-fen, das vom ersten bayerischen Dorferneuerungsminister Hans Eisenmann ausgegebene Ziel „Das bewährte Alte erhalten, das gute Neue schaffen“ umzusetzen. Ich bin ganz sicher, dass seine heutige Nachfolgerin Michaela Kaniber dieselbe Sensibi-lität hat und dass sie bei der Aufgabe, gleichwertige Lebensbedingungen auch auf dem Land zu schaffen, an die Bewahrung der Schönheit bayerischer Dörfer und von Bauern gepflegten Landschaften denkt.
Es kann sein, dass infolge der Corona Pandemie wieder mehr Familien auf das Land ziehen und dort arbeiten, wohnen und bauen wollen. Auch vor diesem Hintergrund ist mein letzter Wunsch: damit die Verwaltung ihrem Auftrag im Dienste der bayerischen Gemeinden, Bürger und Bauern noch effektiver nachkommen kann, braucht sie dringend mehr Personal! Denn Beratung ohne Personal bleibt ansonsten eine Fata Morgana!
Beitrag aus DVW Bayern 3.2021