Eigentlich müsste es zur Zeit hoch hergehen in München und anderswo, denn der Fasching ist angebrochen. Aber ach: alle öffentliche Lustbarkeit – in normalen Zeiten enthält der Ballkalender etwa 2000 Termine – sind seit Langem abgesagt, und privat darf ja erst recht nicht gefeiert werden. Nach Starkbierzeit und Wiesn fehlt nun auch diese Gaudi, die den Corona-Gefangenen ein Ventil.hätte bieten können.
Ganz will die Faschingshochburg München aber auf diese Tradition doch nicht verzichten. Die offizielle „Narrhalla“ hat einfach, wie so viele Kulturträger, auf Online umgeschaltet: Die meisten der planmäßigen Veranstaltungen, von der Inthronisation des Prinzenpaares bis zum „Schlagerfasching“ am „Unsinnigen Donnerstag“, werden per Live Streaming auf die Bildschirme übertragen, natürlich unter Hygienebedingungen und ohne eigentliches Publikum. Und einige „verdiente“ Mitbürger sowie 2000 Seniorinnen und Senioren bekommen einen ganz besonderen Faschingsorden, den der Karikaturist Dieter Hanitzsch entworfen hat; das Münchner Kindl trägt ist natürlich maskiert. Dabei ist Münchens Faschingsgeschichte doch eng mit dem Seuchengeschehen verbunden. Die Legende führt nämlich den alle sieben Jahre fälligen Schäfflertanz auf die Pest zurück. Im Jahr 1517 soll der „Schwarze Tod“ dermaßen gewütet haben, dass die meisten Ratsleute aus der Stadt geflohen seien und die meisten Bürger in ihren Häusern blieben, was eine gewaltige Hungersnot zur Folge gehabt haben soll. Als die Seuche endlich abflaute, habe ein mutiger Mann aus der Zunft der Schäffler seine Wohnung, Färbergraben 20, verlassen und Kollegen animiert, die Bürger durch Musik und lustiges Spiel aufzuheitern.
„Bald wurde es wieder lebhaft in den Straße, die Glocken ertönten zu Dankgebeten. Alles kehrte zur Ordnung und zur Arbeit mit erstarktem Mute zurück.“ So erzählt es der Fachverein der Schäffler Münchens auf seiner Webseite. Und so hätte man es gern wieder, und zwar möglichst bald. Aber beim Schäfflertanz, der Erlösung von allem Übel, handelt es sich halt nur um eine Legende. Sie war im 19. Jahrhundert durch einen gewissen Mayer verbreitete worden. Herr Mayer, so fand ich bei Recherchen für mein Buch „Die Große Gaudi“ heraus, stützte sich anscheinend auf ein Pestbild in der Peterskirche. Hellmut Stahleder vom Stadtarchiv jedoch stellt kategorisch fest: „Es gab offensichtlich 1517 keine Pest, am allerwenigsten eine schwere.“ Das Bild müsse sich überhaupt nicht auf eine bestimmte Pest beziehen, und wenn, könne diese viele Jahre zurückliegen. Egal, lasst die Schäffler wieder tanzen!
Traurige Gedenktage – 25. Januar. Genau zwölf Monate sind nun vergangen, seit das neuartige Virus in Deutschland angekommen ist. In der Nacht auf Freitag den 25. Januar 2020 bekam der 33 Jahre alte Chrisoph N. einen Schüttelfrost. Halsweh; Gliederschmerzen, Fieber und Husten folgten. Der leitende Angestellte des Autozulieferbetriebs Webasto in Stockdorf bei Gauting vermutete eine Erkältung. Er konsultierte seinen Hausarzt. Der erkannte, dass es sich nicht nur um einen grippalen Infekt handeln konnte, er schickte N. ins Tropeninstitut der Universität München. Das Ergebnis des Rachenabstrichs erfuhr N. zu Hause in Kaufering am Telefon: Er war infiziert von einem in China grassierenden Erreger, den die WHO wegen seiner Zacken als „Corona“ (Krone) bezeichnete. Umstände und Verbreitung der Ansteckung wurden schnell geklärt: Am 20. und 21. Januar hatte N. Besprechungen mit einer aus Shanghai eingeflogenen Kollegin vom Zweigwerk in Wuhan. Nach ihrer Heimkehr wurde die Chinesin am 26. Januar ebenfalls positiv getestet. Christoph N. und neun weitere infizierte Webasto-Mitarbeiter genasen binnen zwei Wochen. Die nun fällige Jahresbilanz ist verheerend: Bis zum heutigen Tag (Stand 8.30 Uhr) meldet das Robert-Koch-Institut für Deutschland: insgesamt 2 141 665 Fälle von Virus SARS-CoV-2-IInfektion, davon 1 807 500 Genesene, 52 097 Tote, 4768 Intensivpatienten, 1 632 777 Geimpfte, 111 Neuinfekte in sieben Tagen (Inzidenz), 1.01 Neuansteckungen pro infizierter Person (Reproduktionszahl). Bayern liegt bei den Bundesländern nach wie vor an zweiter Stelle mit 39 985 Infizierten und 9640 Toten. Allerdings: seit einigen Tagen zeigt sich ein Lichtschimmer am Ende des Tunnels. „Die Zahlen entwickeln sich in die richtige Richtung, sind aber immer noch auf zu hohem Niveau,“ fasste Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zusammen.
Die Bilanzierung veranlasste mich, mal Vergleichszahlen für China zu recherchieren. Merkwürdigerweise bleibt der aktuelle Stand im Ursprungsland der Pandemie in den Übersichten der Medien und in den täglichen Talks so gut wie unerwähnt. Dabei genügt ein Blick ins Netz, um erstaunliche Statistiken zu finden: Wurden bis zum 4. März 2020 noch täglich weit über hundert Neuinfizierte gezählt, so blieb deren Zahl seither unter zwanzig pro Tag. Insgesamt meldet China seit Ausbruch der Seuche 89439 Infizierte, von denen 82211 genesen seien. Die Zahl der Todesfälle wird mit 4624 beziffert – weltweit mit über einer Million. China hat 1,4 Milliarden Einwohner.Diese Zahlen stammen von der Weltgesundheitsorganisation, welcher – besonders von Donald Trump – eine gewisse Abhängigkeit von Peking unterstellt wurde. Dem wäre zu entgegnen, dass es auch in einem autoritär regierten Land kaum möglich wäre, wesentlich höhere Zahlen an Erkrankungen und Toten längere Zeit geheim zu halten. Eingedämmt wurde Corona in der Volksrepublik offenbar beizeiten durch Maßnahmen, wie sie in demokratischen Ländern wohl kaum nachvollziehbar wären: durch eine Mobilisierung der Bevölkerung fasr so wie einst durch die „Kulturrevolution“. Staatsführer Xi Jinping sprach von einem „Volkskrieg gegen das Virus“. Über die ganze Provinz Hubei wurde Quarantäne verhängt. über 42 000 Ärzte und Pflegekräfte wurden dorthin beordert. 1800 Teams spürten allein in Wuhan über 1800 Teams Personen auf, die Kontakt mit bestätigten Virus-Patienten hatten. Unverzüglich und überall wurden Vergnügungsstätten geschlossen, Schulferien verlängert, Grenzen gesperrt, Körpertemperaturen gemessen. Nach einem erneuten Ausbruch wird die Volksgesundheit noch schärfer überwacht; durch Smartphone-Apps („Big Data“), die für verschiedene Lebensbereiche entwickelt wurden, durch Drohnen, die Menschen ohne Masken melden, und durch Hausarrest für 23 Millionen Stadtbewohner.
In einer parlamentarischen Demokratie unmöglich? Nun, auch das lässt sich dem Netz entnehmen; Der freiheitliche, von China beanspruchte Inselstaat Taiwan hat die Seuche ebenfalls unter Kontrolle bringen können durch frühzeitige systematische Eingriffe des nationalen Krisenzentrums – und ganz ohne Lockdown Seit dem 1. April 2020 sind insgesamt weniger als 600 der 23 Millionen Staatsbürger durch das Virus SARS-CoV-2 angesteckt und nur noch zwei Menschen an oder mit der Krankheit Covid 19 gestorben.
Der einjährige Gedenktag in Deutschland bietet auch Gelegenheit,hundert Jahre zurückzuschauen. Anfang 1921 war die dritte und letzte Welle der sogenannten Spanischen Grippe verebbt. Die am Ende des Ersten Weltkriegs aus Amerika eingeschleppte Seuche hat weltweit 50 Millionen und allein in Bayern etwa 30 000 Menschen das Leben gekostet. Weithin fehlten Ärzte und pflegendes Personal, so dass heimgekehrte Soldaten in die Lazarette geschickt werden mussten. Eine Impfung gab es noch nicht. Ärzte empfahlen tiefes Atmen in frischer Luft und das Vermeiden von Überarbeitung.
Bericht: Karl Stankiewitz – Foto: Thomas Stankiewitz