Gesundheit & Corona

Corona-Tagebuch: Lesen, Leeren, Lehren

Veröffentlicht von Anton Hötzelsperger

Im Coronatagebuch des Münchner Journalisten Karl Stankiewitz findet sich für den 4. Januar nachfolgender Eintrag: Die Tage des Innehaltens sind vergangen. Sie waren nur ein Intermezzo zwischen einem knappen Jahr, das für viele ein böses, ein verlorenes Jahr war, und einem Jahr der Ungewissheit und der zaghaften Hoffnung. Sie sollten uns eigentlich, so wurde allenthalben gepredigt, vom Seuchenstress weg zurückführen zur intensiveren Beschäftigung mit dem eigenen Ich und den nächsten Angehörigen. Für mich gewöhnten Homeworker waren es eher Tage des Lesens, der Leeren und der Lehren. Was haben uns diese Feier- und Brückentage gelehrt?

Es ist die vermeintliche Einsamkeit, die einen in Freiheit aufgewachsenen Menschen in den vier Wänden allzu bald bedrückt. Dem folgt, nach einer gewissen Zeit, das Gefühl des Eingesperrtseins. „Wie in einem Gefängnis“ war sich mein alter Freund Hans schon in der Frühphase des ersten Lockdown im Seniorenheim vorgekommen. Gegenwärtig kann auch der, dem die Türen (noch) offen stehen, gut nachempfinden, wie Isolation von der Außenwelt – zum Beispiel in Quarantäne, im Krankenhaus oder im Knast – auf die Seele wirken kann. Lehre Nr.1: Alleinsein und Nichtstun ist nichts für Jedermann.

Nach kurzer Zeit stellt sich ein Drang ein: Nichts wie raus! Doch wohin? Kurzbesuche bei Freunden waren an den freien Tagen ebenso unerwünscht wie Ausflüge in Erholungsgebiete, wo Landräte protestierten. „Verreisen Sie nicht, treffen Sie möglichst nur wenige und wenn, dann nur dieselben Menschen,“ hatte RKI-Chef Wieler kurz und knapp geraten. Auch der tägliche Spaziergang zum Luftschnappen brachte manchmal weniger Befreiung als Beklemmung, zumal bei trübem Wetter. So wie Christian Ude empfand ich es „makaber, wie tot die Stadt ist“. Fast ängstlich wichen die wenigen, von Infektions- und Todeszahlen umschwirrten Passanten vor einander aus. Gelegentlich kam es mir vor wie eine Runde im Gefängnishof. Lehre Nr.2: Der Mensch braucht die Nähe des Menschen.

Wenn sich dem Eindruck von – objektiv oft nicht begründeter – Vereinsamung ein Angstgefühl hinzugesellt und keinen Ausgleich findet, kann es zu einer verheerenden Stimmungslage kommen. In einer aufwühlenden SZ-Reportage aus einem Psychiatrischen Klinikum in Thüringen lese ich, dass dort täglich Menschen mit Depressionen, akuten Angst- und Zwangsstörungen aufgenommen werden, das Haus sei „bis unters Dach belegt“ mit Patienten, die an Pandemie-Ängsten leiden. Auch Münchner Krisendienste meldeten vermehrte Telefonnotrufe und Einsätze, oft ausgelöst durch familiäre Konflikte oder unerträgliche Einsamkeit.

Nicht nur die Älteren sind betroffen. Nach einer bundesweiten Studie sollen 46 Prozent der 15- bis 30-Jährigen zugestimmt haben, Angst vor der Zukunft zu haben. Aus dem Münchner Stadtjugendamt verlautet: „Pandemiebedingt hat besonders die Einzelfallarbeit unserer Streetworker zugenommen.“ Aus Mexiko berichtet mir meine Schwester, dass sich zwei 14-Jährige vermutlich aus Angst vor Corona das Leben genommen haben. Lehre Nr. 3: Angst macht alles noch schlimmer.

Und auch das lehrt die Corona-Krise zu Jahresbeginn: In einer Stadt mit 54 Prozent Einzelpersonenhaushalten, sprich Singles, stellen sich ganz neue Herausforderungen. So hat die CSU-Fraktion eine „Fachstelle gegen Einsamkeit“ gefordert. Sie solle eine Struktur schaffen, um einsame Menschen schnell zu erreichen und aus der Isolation heraus zu holen. Darüber hinaus will man dem in der Großstadt „schleichenden, gesellschafts- und gesundheitspolitisch unterschätzten Phänomen Einsamkeit“ auf den Grund gehen. Einsamkeit sollte allerdings nicht mit Alleinsein gleichgesetzt werden. Als erstes Zeichen der Verbundenheit mit diesen Menschen fordert die CSU in einem Dringlichkeitsantrag eine „Münchner Kindl Aktion Briefe gegen die Einsamkeit“.

Bilder: Thomas Stankiewitz

Redaktion

Anton Hötzelsperger

Als freier Journalist bin ich bereits seit vielen Jahren mit der täglichen Pressearbeit für die Region Chiemsee, Samerberg und Oberbayern befasst. Mit den Samerberger Nachrichten möchte ich eine Plattform bieten für Beiträge aus den Bereichen Brauchtum, Landwirtschaft, Tourismus und Kirche, die sonst vielleicht in den Medien keinen breiten Raum bekommen würden.

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