Kultur

Buchtipp: Tomer Dotan-Dreyfus, Birobidschan

Veröffentlicht von Günther Freund

Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023 (Longlist)  –  Vom Leben in einem jüdisch-sozialistischen Schtetl in Sibirien.

Birobidschan ist eine russische 75 000 – Einwohnerstadt, gegründet in den 1930er  Jahren als stalinistisches Experiment und Bollwerk gegen China. Heimathungrige jüdische Siedler kommen, um das sibirische Sumpfgebiet fruchtbar zu machen, die  meisten verlassen aber das acht Flugstunden von Moskau und anderthalb Autostunden von China entfernte Schtetl im Laufe der Vierziger-Jahre wieder. Doch auch heute wird in den Schulen noch auf Jiddisch unterrichtet und die Ortsschilder sind zweisprachig. Im Buch wird die autonome jüdisch-sozialistische Region abgeschottet von allem Weltgeschehen und dennoch auf der Höhe der Zeit  dargestellt als ein Ort in dem Sozialismus mit menschlichem Antlitz herrscht. Dreh- und Angelpunkt sind die Bewohner mi tihren kleinen und großen Sorgen – wie dieFreundinnen Josephin und Sulamith,  der Fischer und Ur-Birobidschaner Boris, das seit Kindertagen verliebte junge Paar Alex und Rachel oder die engen Freunde Gregory und Sascha. Das Leben in Birobidschan geht seinen Gang. Gregory hat Depressionen, er fühlt sich in Birobidschan wie in einem Gefängis: „Wenn nichts die eine Person von der anderen unterscheidet, verliert man das Gefühl der Einzigartigkeit eines Selbst, folglich auch das Selbstwertgefühl.“ Dann gerät das sozialistische Birobidschanische Alltagsidyll aus den Fugen. Ein Bär taucht auf, der die Gemeinschaft aufschreckt, aber ebenso vor äußeren Feinden beschützt. Zwei fremde Männer mit einem Gewehr und einem stummen Mädchen aus Moskau irritieren die Leute. Boris wird ermordet, eine weitere Leiche wird gefunden und die Möglichkeit des Bösen ist auf einmal da. Der Gedanke, dass einer von ihnen fähig dazu ist einen anderen zu töten, erschreckt die verängstigten Einwohner und bringt die idyllische Gemeinschaft zum Zerbrechen. Sascha nimmt Gregory mit auf eine Fahrt ins ferne Tunguska, wo 1908 ein Meteoriteneinschlag den sibirischen Wald erschüttert und einen Krater und 60 Millionen umgeknickte Bäume zurückgelassen hat. Er glaubt an dem berühmten Mystery-Ort könnte sich Gregory von seinen Depressionen befreien und tatsächlich verliert sich die Geschichte in Tunguska auf geheimnisvolle Weise.

Der Debütroman des in Haifa geborenen und in Berlin lebenden Tomer Dotan-Dreyfus handelt von Gemeinschaft, Liebe und Glück, aber auch von Verletzungen, Verlust und Tod. Der Autor verquickt mit großer Fabulierlust Vergangenhei tund Gegenwart, Wahrheit und Fiktion und läßt einen teilhaben an dem Denken seiner vielschichtigen Figuren. Er erzählt bildgewaltig, magisch-mystisch und mit wilder Fabulierlust von Menschen, die in einer postsowjetischen Lebensrealität die Grenzen einer Idealwelt ausloten. Eine wunderbare Geschichte – poetisch, eigenwillig und mit jüdischem Witz. Mit Nachdruck empfohlen für Liebhaber und Liebhaberinnen außergewöhnlicher Romane.

Buchprofile Rezension Günther Freund

Tomer Dotan-Dreyfus, Birobidschan, VOLAND & QUIST, 2023, 320 S., 24,00 €

ISBN/EAN: 9783863913472

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Redaktion

Günther Freund

1944 in Bad Reichenhall geboren, Abitur in Bad Reichenhall, nach dem Studium der Geodäsie in München 3 Jahre Referendarzeit in der Vermessungs- und Flurbereinigungsverwaltung mit Staatsexamen, 12 Jahre Amtsleiterstellverteter am Vermessungsamt Freyung, 3 Jahre Amtsleiter am Vermessungsamt Zwiesel und 23 Jahre Amtsleiter am Vermessungsamt Freyung (nach Verwaltungsreform mit Vermessungsamt Zwiesel als Aussenstelle). Seit 2009 im Ruhestand, seitdem in Prien am Chiemsee wohnhaft.

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