Kultur

Buchtipp: Franzobel, Einsteins Hirn  

Veröffentlicht von Günther Freund

Dokumentarischer Roman um den Pathologen Thomas Harvey, der Albert Einsteins Hirn stiehlt und ein Leben lang behält.

New Jersey, April 1955. Der Physiker Albert Einstein stirbt im Princeton Hospital. Bevor der Körper verbrannt und die Asche an einem unbekannten Ort verstreut wird, obduziert der mittelmässige Pathologe Thomas Harvey Einstein und nimmt dessen Hirn eigenmächtig mit nach Hause. Der 42-Jährige Quäker mit schlechten Kindheitserfahrungen und großer Sehnsucht nach Anerkennung sieht die Chance seines Lebens und will am Hirn des Jahrhundertgenies das Geheimnis seiner Genialität erforschen. Einsteins Familie ist dagegen, aber Harvey schafft es, das Einverständnis von Einsteins Sohn zu bekommen. Er schickt Gewebestücke an Hirnspezialisten in den USA, die aber keine Auffälligkeiten finden können. Für Harvey wird das Hirn zur Obsession, seine Gedanken drehen sich nur noch um das Organ. In seinem Keller beginnt das Hirn ein Eigenleben zu entwickeln, es spricht. Das Hirn diskutiert mit Harvey, stellt wissenschaftliche und Glaubensfragen und mischt sich immer mehr in sein Leben ein. Harvey verliert seine Approbation, seine Frau Elouise verläßt ihn, die Einweisung in die Psychiatrie droht. Er kann sich einfach nicht von dem Hirn trennen und zieht damit als Hilfsarbeiter bei ständig wechselnden Jobs und Wohnungen wahllos durch die USA ohne dass es zu wissenschaftlichen Erkenntnissen kommt. Er erlebt mit dem in Einweckgläsern eingelagerten Hirn die Wahl John F. Kennedys zum Präsidenten, Watergate, Woodstock und die erste Landung auf dem Mond. Das Hirn ist sein ständiger Begleiter, aber auch die Ursache, dass sein Leben schließlich völlig aus der Bahn gerät.-   Effektvoll mischt der Österreicher Franzobel, der eigentlich Franz Stefan Griebl heißt, in seiner neu erfundenen tragikomischen Lebensgeschichte eines mittelmäßigen Pathologen historische Fakten mit Fiktion. Voller Witz, schwarzem Humor und absurder Einfälle, in lockerem Schreibstil und mit wilder Fabulierlust gibt der Autor atmosphärische Einblicke in die amerikanische Provinz und die wunden Seelen tragisch-trauriger Figuren.  Lebensnah schildert Franzobel, der die historischen Quelle sehr gut kennt,  eine Vielzahl von Aspekten, von der Popkultur über Glaubensfragen bis zur Warnung vor einem nuklearen Inferno im 21.Jahrhundert und wirft dabei auch einen Blick auf die Welt. Die bizarre Geschichte und hinreißende Zeitreise im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist sehr empfehlenswert für Leser und Leserinnen psychologisch motivierter Darstellungen.

Buchprofile-Rezension von Günther Freund 
 

Roman, PAUL ZSOLNAY VERLAG, 2023, 288 S.,  28,00 €

 
ISBN/EAN: 9783552073340


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Redaktion

Günther Freund

1944 in Bad Reichenhall geboren, Abitur in Bad Reichenhall, nach dem Studium der Geodäsie in München 3 Jahre Referendarzeit in der Vermessungs- und Flurbereinigungsverwaltung mit Staatsexamen, 12 Jahre Amtsleiterstellverteter am Vermessungsamt Freyung, 3 Jahre Amtsleiter am Vermessungsamt Zwiesel und 23 Jahre Amtsleiter am Vermessungsamt Freyung (nach Verwaltungsreform mit Vermessungsamt Zwiesel als Aussenstelle). Seit 2009 im Ruhestand, seitdem in Prien am Chiemsee wohnhaft.

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