Jede Gesellschaft braucht die Erinnerung an das Vergangene, um immer wieder Antworten auf aktuelle politische, kulturelle und sozio-ökonomische Fragestellungen zu finden. In Bayern wird dabei bis heute eine wirkungsmächtige Memorialkultur hochgehalten, wie es die lebendige Tradition der Jahrtage, Chroniken und Anniversarien, Gedenkbilder und vielfältiger künstlerischer Erinnerungszeichen im weltlichen Bereich von Staat, Vereinswesen und Einzelpersonen sowie natürlich ganz besonders im kirchlichen Bereich zeigt. Das Memorialwesen unterliegt bei aller historischer Fundierung in Antike, Mittelalter und Vormoderne dabei einem steten Wandel und ist gerade in Bezug auf unser abendländisches Kulturfundament nicht ohne den Fixpunkt Rom als kulturgeschichtlichen Kristallisationspunkt zu verstehen.
Diesem Kulturtransfer zwischen Bayern und Italien widmet sich der von Prof. Dr. Dieter J. Weiß und Dr. Markus C. Müller herausgegebene und im EOS-Verlag von St. Ottilien erschienene Band „Gedenken ohne Grenzen zwischen Bayern und Italien – Memorialpraxis und Heiligenverehrung in der Vormoderne“. Er ist Frucht einer interdisziplinären und internationalen Tagung, die im Februar 2022 am Römischen Institut der Görres-Gesellschaft in Rom abgehalten wurde. Dabei widmet sich das Werk dem grenzenlosen Gedenken in drei Abschnitten: In der „Memoria der Lebenden und der Verstorbenen“ werden verschiedene Akteure, Orte und Praktiken diesseits und jenseits der Alpen vom 10. bis zum 18. Jahrhundert in den Blick genommen. Die „Memoria der Heiligen“ widmet sich neben dem großen Bereich des Stiftungswesens auch Fragestellungen zur Heiligenverehrung. Schließlich wird in der „Memoria Christi“ die liturgische Kanonisierung der Erinnerungskultur untersucht, die – wie könnte es anders sein – auch wiederum an die jeweiligen Zeitumstände geknüpft ist.
In den 18 Einzelstudien können so weitergehende Antworten auf Fragen sozialer, kultureller, ökonomischer, politischer und räumlicher Dimension in unterschiedlichen Epochen gefunden werden. Ob bayerische Gedenkorte in der Ewigen Stadt oder römische Memoria in Bamberg als fränkischem Rom, Fuggerkapellen diesseits und jenseits der Alpen, die Loreto-Frömmigkeit in bayerischer Ausprägung oder das Schicksal im Ausland verstorbener Wittelsbacher – deutlich tritt die jahrhundertelange Tradition des transalpinen Kulturtransfers zwischen Bayern und Italien hervor.
Dem knapp 500 Seiten starken Werk gelingt es mit seinem breiten thematischen und in der Landesgeschichte inhärenten transnationalen Ansatz, überzeugende Zugänge zu vormodernen Lebenswelten zu erschließen. Die teilweise reich bebilderten Aufsätze zeigen dabei gemeinsam mit dem methodisch klar gefassten Einleitungskapitel eindrücklich auf, wie immanent wichtig Erinnerungskultur sowohl in vormodernen als auch in (post-) modernen Gesellschaften ganz nach Thomas von Aquin ist: „Im Menschen ist nicht allein Gedächtnis, sondern Erinnerung.“
Beitrag entstand dank freundlicher Unterstützung des Bayernbundes – entnommen der Weiß-Blauen Rundschau
Text und Bildmaerial: Dr. Julian Traut