„Auferstehungspflanze“ heißt sie auch, und „Rose der Heiligen Maria“, weil die Muttergottes sie auf der Flucht nach Ägypten in der Wüste gesegnet haben soll. Als die schwangere Maria übers Gebirge ging, um ihre Base Elisabeth zu besuchen, lautet eine andere Legende, blühte an jeder Stelle, die ihr Fuß berührte, eine Jerichorose auf. Sogar in der Bibel ist die Pflanze angeblich schon erwähnt: Im Buch Sirach (24,18) wird die göttliche Weisheit in Zusammenhang gebracht mit „den Rosenstöcken, die man um Jericho zieht“. Die Botaniker kennen sie unter dem Namen Anastatica hierochuntica – die „Rose von Jericho“.
Zu Hause ist die unscheinbare Blattrosette in den Wüstengebieten Nordafrikas und des Nahen Ostens. Dort kannte man schon seit vorchristlicher Zeit ihre wunderbare Eigenschaft, immer wieder zu ergrünen und sich scheinbar mit Leben zu füllen. Man verehrte sie deshalb als Wunderpflanze und benützte sie zu allerhand Zauberei. Die Kreuzfahrer waren es vermutlich, die im Mittelalter erste Exemplare der Zauberpflanze nach Europa brachten – und mit ihr die Kunde von ihrer Wunderwirksamkeit.
Mit unseren Rosen hat sie allerdings nichts zu tun. Es handelt sich um einen Kreuzblütler, eine Wüstenpflanze, dessen Rosette am Ende der Vegetationszeit verdorrt und sich zu einem Ball einrollt, wenn der Regen ausbleibt. In der eingerollten Rosette bewahrt die Pflanze die wertvollen Samen für die nächste Pflanzengeneration auf. Tobt nun der Wind durch die Wüste, reißt er die trockene Pflanze aus ihrer Verankerung und weht sie oft kilometerweit weg, wo sie liegenbleibt und – sobald der Regen zurückkehrt – aus den mitgenommenen Samen neue Pflänzchen entwickelt. Die trockene Rosette selbst saugt sich dabei wie ein Schwamm mit Feuchtigkeit voll, öffnet sich deshalb und zeigt ihre grüne Innenseite. Doch ist dieser Vorgang rein physikalischer Natur, Hygroskopie nennt ihn die Wissenschaft. Die Rosette ist abgestorben und öffnet sich nur durch das Aufsaugen von Wasser, so, wie sie sich bei Wasserentzug wieder schließt.
All das muss unseren Vorfahren wie ein Wunder vorgekommen sein. Und Wunder werden seit zweitausend Jahren Gott und seinem Sohn zugeschrieben ebenso wie dessen Mutter – daher der Name „Rose der Heiligen Maria“. Das Ergrünen der scheinbar toten braunen Pflanze setzte man mit der Auferstehung Christi gleich oder auch mit der Ankunft des Herrn in der bis dahin hoffnungslosen Welt. Und so war es denn bei unseren Großeltern und Urgroßeltern üblich, von einem reisenden Händler eine „Rose von Jericho“ zu erwerben, wenn nicht schon eine im Haus war. Diese hat man dann zu Weihnachten in eine Schale mit Wasser gesetzt, wo sie wie durch Zauberhand ergrünte und ihre Blätter öffnete – sie schien zu leben. Länger als eine Woche sollte sie nicht im Wasser stehen, sonst schimmelt und fault die Pflanze. Man lässt sie wieder trocknen – bis zum nächsten Weihnachtsfest. Es soll Jerichorosen geben, die seit Generationen in einem Haus weitervererbt und jedes Jahr zum „Blühen“ gebracht werden.
Kein Wunder, dass der Zauberglaube um die „Rose“ ebenso blühte wie die Pflanze selbst. Einer Frau vor der Niederkunft stellte man die Rose unters Bett, das sollte die Geburt erleichtern und Kind und Mutter ein langes Leben schenken. Das Aufgehen der Rose wurde mit der Öffnung des Mutterschoßes assoziiert. Auch das Wasser, das mit der Rose in Berührung gekommen war, wurde zur Geburtserleichterung der Gebärenden zu trinken gegeben oder man hat ihre Lippen damit benetzt. Unter dem Bett soll die Rose auch das Einschlafen fördern, ebenso wie sie allgemein Glück und Wohlstand ins Haus und über eine Familie bringen soll. Weit verbreitet war der Glaube, dass sich die Jerichorose überhaupt nur in der Christnacht öffne. Wenn sie, an Heiligabend ins Wasser gestellt, vor Mitternacht „aufblühe“, bedeute das Glück im kommenden Jahr, wenn das erst nach Mitternacht geschehe oder gar nicht, dann verheiße das Unglück oder es müsse jemand aus der Familie sterben. In den magischen Zwölfnächten nach Weihnachten wurde sie als Wetterorakel fürs nächste Jahr verwendet: Blieb die Rose geschlossen, war trockenes Wetter zu erwarten, öffnete sie sich weit, rechnete man mit einem feuchten Jahr.
Im 16. Jahrhundert, in der Zeit der Gegenreformation, gab es sogar katholische Kirchenmänner, die behaupteten, die Jerichorose würde sich auch an Weihnachten in Gegenwart von Kranken und Sterbenden nicht öffnen – und auch nicht, wenn ein „Calvinist“ im Raum sei. Verlasse dieser jedoch das Zimmer, gehe die Rose sofort auf.
Die große Beliebtheit der Jerichorosen führt seit jeher dazu, dass auch billiger Ersatz angeboten wird: Zu den Moosfarnen gehörende Pflanzen (Selaginella lepidophylla) werden aus den Wüsten Mittelamerikas importiert und sehen den echten Jerichorosen zum Verwechseln ähnlich. Auch sie saugen sich beim Kontakt mit Wasser schnell voll und öffnen sich – scheinbar lebendig geworden. Doch vertragen die unechten Rosen diese Prozedur angeblich nicht so häufig. Und in der Bibel sind sie erst recht nicht erwähnt – kannte man damals doch noch nicht einmal den Kontinent, auf dem sie daheim sind.
Entnommen aus dem Buch:
- Autor: Dorothea Steinbacher
- Titel: Wenn’s draußen finster wird. Bräuche und Legenden für die Winterzeit
- Aufmachung: 192 Seiten, durchgehend vierfarbig
- ISBN: 978-3-466-37224-9, Kösel Verlag 2020
Text und Bildmaterial: Dorothea Steinbacher (www.dorothea-steinbacher.de)