Mehr als ein alter und traditioneller Brauch sind die großen violetten Fastentücher in der Pfarrkirche St. Wolfgang in Haibühl. Drei überdimensionale Vorhänge verhüllen den Haupt- und die beiden Seitenaltäre. Am Aschermittwoch aufgehängt, werden die Fastentücher (auch Hungertuch oder „velum templi“, Vorhang des Tempels, genannt) erst am Karsamstag wieder entfernt. Diese rund sechswöchige praktizierte Verhüllung von Kreuzen, Figuren und Bildern (vor allem Darstellungen des auferstandenen, im Himmel thronenden Christus) in der Kirche lässt sich auch heute noch als „Augenfasten“ deuten. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf das Wesentliche des Glaubens.
Die besonderen liturgischen Regeln der Fastenzeit weisen uns auf die Möglichkeit hin, mit den Augen und Ohren zu fasten. Das ist heute aktueller denn je. In einer Zeit, in der die tägliche Bilder- und Klangflut unsere Sinne ausreizt, kann uns eine wenigstens zeitweilige, bewusste Einschränkung des Augen- und Ohrenkonsums nur gut tun. Es hilft uns, das gewohnte Umfeld aufmerksamer und intensiver wahrzunehmen. Alltägliches, Vertrautes anders zu sehen ist der erste Schritt zu einer Verhaltensänderung, zur „Umkehr“, von der das Evangelium spricht. Durch diese Tradition wird dem sich anschließenden Osterfest noch ein viel stärkerer Glanz verliehen.
Im Gegensatz zu manch anderen reich bebilderten Tüchern sind die Haibühler Tücher in schlichtem Violett mit biblischen Motiven versehen. Lila gilt als die Farbe der Buße, der Umkehr. Diese Farbe setzt sich zusammen aus Rot und Blau. In der altkirchlichen Symbolik ist Rot die Farbe des Irdischen und Blau die Farbe des Himmlischen. Dies ist oftmals gut in Darstellungen von Maria, der Mutter Jesu, zu beobachten: Sie wird oft gemalt in einem roten Kleid (das symbolisiert ihr Menschsein) und einem blauen Überwurf (sie wird gleichsam mit himmlischer Natur überkleidet). Bei der Buße und Umkehr geht es darum, dass sich Himmel und Erde berühren, ja durchdringen. Wir breiten unser Leben vor Gott aus, lassen uns auf ihn ein, lassen ihn in unser Leben ein.
Schöpferin dieser Kunstwerke, die so alt sind wie die Pfarrkirche selbst (Bauzeit 1977/78, Kirchenkonsekration durch Weibischof Vinzenz Guggenberger am 30. Juli 1978), ist Paula Altmann (+ 2019), die ehemalige Haushälterin von Pfarrer Max Heitzer, der von 1971 bis 1989 als Pfarrer von Haibühl wirkte. Unter ihren geschickten Händen entstanden die Banner, die in der Fastenzeit 1979 das erste Mal Verwendung fanden. Als Material wählte Altmann weiche, hochwertige Baumwolle. Die Motive sind aus Filz und wurden von ihr in Handarbeit aufgenäht bzw. gestickt.
Auf dem mittleren Tuch am Hochaltar sind die Leidenswerkzeuge (auch Passionswerkzeuge, lateinisch Arma Christi, „Waffen Christi“) zu finden. In Brauntönen gehalten erinnern das Kreuz mit dem Titulus crucis (INRI), die zur Kreuzabnahme verwendeten Leitern, Kreuznägel mit Hammer, Zange zur Entfernung der Kreuznägel und die Lanze, mit der ein römischer Soldat Jesus die Seitenwunde zufügte, an das Geschehen am Karfreitag. Sie stehen in direkter Beziehung zum Leiden und Sterben Jesu Christi, ebenso wie die Dornenkrone und das Grabtuch, die auf den beiden Seitenaltären dargestellt sind.
Die Ursprünge dieses Brauches liegen vermutlich im jüdischen Tempelvorhang begründet, wobei der Brauch, ein Fastentuch vor den Altar zu hängen, bis ins 9. Jahrhundert reicht. Bereits um das Jahr 895 wird erstmals von dem Brauch berichtet in der Fastenzeit den Altar- und Chorraum mit großen Tüchern zu verhängen, um der Gemeinde die Sicht auf das Allerheiligste zu verwehren. Die Verhüllung war eine Bußdisziplin, eine „Askese für die Augensinnlichkeit“. Bis ins 12. Jahrhundert war das Fastenvelum ein schmuckloses weißes Leinentuch. Später bestickte oder bemalte man die Tücher mit volkstümlichen Bibeldarstellungen (Passion Christi), die der Glaubensunterweisung der Gemeinde dienten. Die Redewendung „am Hungertuch nagen“ für „darben, ärmlich leben“ ist zumindest indirekt mit dem Fastentuchgebrauch verbunden. Sie bezieht sich dabei nicht nur auf die herrschende materielle Armut, sondern auch auf die optisch erzwungene und scheinbare Gottferne.
Das „Fasten mit den Augen“ wird in der 40-tägigen Vorbereitungszeit auf Ostern auch merklich durch das „Fasten der Ohren“ ergänzt. Abgesehen von der momentanen Pandemiezeit, die den Gemeindegesang gänzlich verbietet, zeigt sich auch bei der musikalischen Gottesdienstgestaltung Zurückhaltung. Ab dem Aschermittwoch ändert sich einiges in der katholischen Liturgie: Auf den Gesang von Gloria und Halleluja wird verzichtet, aber auch Kirchenschmuck und Orgelmusik werden zurückgefahren. Der Auszug des liturgischen Dienstes erfolgt in Stille. Das Ziel ist die Konzentration auf das Wesentliche und die Chance, den Reichtum der Liturgie ab Ostern wieder neu zu erfahren.
Damit soll aber keineswegs auf das Lob Gottes verzichtet werden. Als Einladung an die Gläubigen gilt, dem Kantorengesang und der Orgelmusik zu lauschen und damit innere Einkehr zu halten. Im Übrigen wird uns in Erinnerung gerufen, dass nicht einfach die Orgel spielt, sondern eine Person, die mit ihrer Musik etwas aussagen will. Vom Gründonnerstag bis zur Osternacht schweigt die Orgel sogar ganz, ebenso wie die Kirchenglocken. Einer alten Legende zufolge „fliegen die Glocken an diesen Tagen nach Rom“ und kehren erst in der Osternacht zurück, um dann aber mit aller Kraft zur Feier der Auferstehung Jesu zu läuten.
Bis vor der Liturgie am Gründonnerstag können die Fastentücher für Gebet und Andacht während der Öffnungszeiten der Pfarrkirche besucht werden. Gebetsvorlagen für die Karwoche und Ostern sowie von Ostern zuhause liegen als Anregungen am Schriftenstand auf. Pfarrer Johann Wutz möchte aber auch dazu anregen, im Gotteslob auf Schatzsuche zu gehen, das Inhaltsverzeichnis zu lesen, einfach durchzublättern und bei Gebeten, Liedern und Andachten innezuhalten, die einem persönlich ansprechen. „Schon allein dadurch bewegen wir uns im Raum des Gebets und in der Gegenwart Gottes“, so der Geistliche.
Das Gotteslob versteht sich als Gesang- und Gebetbuch, übrigens auch ausdrücklich als Hausgebetbuch für das persönliche Gebet und das gemeinsame Gebet der Familie. Als typische Andachtsformen der Fastenzeit weist Pfarrer Johann Wutz auf zwei Kreuzwegandachten im Gotteslob (GL 683 und GL 934) sowie auf die Andacht zur Ölbergstunde (GL 938, besonders für die Karwoche und den Gründonnerstag) hin. Besonders jetzt in der gegenwärtigen Ausnahmezeit eignet sich sehr gut die Andacht zum Heiligsten Herzen Jesu (GL 933) oder die Tagzeitenliturgie (Morgenlob für die österliche Bußzeit GL 623, vollständige Vesper GL 637-640). Zur Vorbereitung auf den Empfang des Bußsakraments empfiehlt Pfarrer Wutz die Nummern GL 593, 594 und 599.
Bericht und Fotos: Regina Pfeffer