Die Rede beim Volkstrauertag 2021 in Prien a. Chiemsee hielt im Beisein der Ehrenbürgerin Renate Hof und des Ehrenbürgers Michael Anner senior Erster Bürgermeister Andreas Friedrich, seine Rede im Wortlaut:
Hohe Geistlichkeit, Ehrenbürger, Mitglieder des Marktgemeinderates, werte Vereinsvertreter, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
seit Jahrzehnten ist auch in unserer Heimatgemeinde das Gedenken hier am Kriegerdenkmal am Marktplatz und der Volkstrauertag ein festes Ritual. Letztes Jahr konnte dieses Gedenken nicht im gewohnten Rahmen bzw. nur individuell und im Stillen stattfinden. Und auch heute ist einiges anders (Plätze in der Kirche, kein gemeinsamer Einzug der Fahnen und Vereine in die Kirche), denn wir sind nach wie vor mitten in der Zeit der Corona-Pandemie und es ist noch kein wirkliches Ende in Sicht. Ganz im Gegenteil sogar: die Auslastung der Krankenhäuser bei uns im Landkreis und in den Nachbarlandkreisen steigt von Tag zu Tag, das Personal dort arbeitet bis an die Grenze des Zumutbaren und die Impfungen, die uns vor neuen Einschränkungen hätten bewahren können, laufen leider nur schleppend. Es ist eine Zeit, die allen von uns vieles abverlangt hat. Jeder von uns musste sein Leben umstellen und muss dies auch heute noch teilweise. Für viele gerade in den Alten- und Pflegeheimen waren es Monate der Einsamkeit und der Trennung von lieben Menschen, von Angehörigen und Freunden. Und für viele, gerade für diejenigen, die sich aus freien Stücken gegen eine Impfung entschieden haben, aber auch für die Menschen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können, kommt nun in Zeiten von erneut hohen Inzidenzen, einer extrem angespannten Situation in den Krankenhäusern und Schlagwörtern wie 2G oder 3G plus erneut eine Zeit der Einschränkungen. Dennoch ist es vielen Menschen auch in unserer Gemeinde ein Anliegen, sich heute zu versammeln und gemeinsam am Volkstrauertag der Kriegstoten und der Opfer von Gewaltherrschaft und Flucht und Vertreibung zu gedenken.
„Weil die Toten schweigen, beginnt immer wieder alles von vorn“, hat der französische Philosoph Gabriel Marcel geschrieben. Damit die Toten eben nicht schweigen, damit wir ihre Stimme hören, gibt es den Volkstrauertag.
Die Anzahl derjenigen, die noch Kriegserlebnisse aus erster Hand erzählen können, wird naturgemäß immer geringer. Die unmittelbare Trauer, die sich auf dem Verlust eines geliebten Menschen gründet, ist verblasst, da der zweite Weltkrieg viele Jahrzehnte her ist und wir seitdem hier bei uns in Deutschland gottlob von kriegerischen Auseinandersetzungen verschont geblieben sind. Es fällt heute insbesondere jüngeren Menschen schwer, die Bedeutung, die der Volkstrauertag für die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen hat, in der Tiefe zu begreifen. Wann die Weltkriege offiziell endeten, wie viele Opfer sie gefordert haben und wie viele Millionen von Menschen ihre alte Heimat aufgeben mussten, wird in der Schule vermittelt, steht in jedem Lexikon und kann auch im Internet nachgelesen werden. Wie lange die Weltkriege jedoch nachwirkten in den Köpfen und Seelen der Kriegsgeneration und der Menschen, die während oder kurz nach dem Krieg geboren wurden, ist eine andere und nur individuell beantwortbare Frage. Auch, wenn sich beispielsweise meine Generation getraut hat, Oma und Opa zu fragen, wie es denn war im Krieg und auch wenn die Großeltern davon erzählt haben, so lässt sich das Erlebte oft nur schwer begreifen. Wirklich nachvollziehen lässt es sich nicht. Mit der geschichtlichen Entfernung zu den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs kommt den Gedenkstätten und auch unserer Gedenkfeier zunehmend eine neue Bedeutung zu: Sie werden von Orten der Trauer zu Orten des Lernens.
Der Volkstrauertag sollte daher auch den Bogen spannen in die heutige Zeit, die während der Lockdowns das erste Mal seit Ende des 2. Weltkrieges gezeichnet war von Ausgangssperren; von kollektivem, zwangsweisem Verzicht. Eine Zeit, die aber auch geprägt ist von ganz neuen Herausforderungen z. B. im Umgang mit knapper werdenden Ressourcen wie Trinkwasser, im Umgang mit dem Klimawandel und im Umgang mit Umweltkatastrophen wie beispielsweise der Flutkatastrophe im Ahrtal. Auch der Umgang mit der Corona-Pandemie stellt unsere Gesellschaft vor eine große Zerreißprobe. Geimpfte wollen sich keine Vorschriften mehr machen lassen. Ungeimpfte ebenfalls nicht. Jeder will sein altes Leben zurück und schiebt die Schuld an den hohen Infektionszahlen auf die jeweils andere Gruppe ohne das eigene Verhalten zu reflektieren.
Übrigens eine in meinen Augen sehr traurige Entwicklung, die schon vor und unabhängig von Corona begonnen hat! Es sind bewegte Zeiten, in denen viel zu viel übereinander und gefühlt viel zu wenig miteinander gesprochen wird. Zeiten, in denen nur noch die eigene Meinung zählt – leider viel zu oft gebildet aus fragwürdigen Quellen aus dem Internet – und das Wort, die Gedanken und Beweggründe anderer Menschen nicht mehr angenommen, aufgenommen und vor allem nicht mehr respektiert werden. Zeiten, in denen eine Lagerbildung stattfindet, die gefühlt immer breitere Gräben zwischen uns Menschen erzeugt.
Die Erinnerung an die Opfer beider Weltkriege und die Erinnerung an die schrecklichen Folgen, die ein Krieg zwangsläufig mit sich bringt – Flucht, Vertreibung, Obdachlosigkeit und Hunger – kann hier als Mahnung verstanden werden, damit Menschen ihre Probleme und die Herausforderungen dieser Tage friedlich lösen und eben nicht aufhören, miteinander zu sprechen.
Und so denken wir heute an alle Opfer von Gewalt und Krieg.
Wir gedenken der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren.
Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, Teil einer Minderheit waren oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.
Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft geleistet haben, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten.
Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Bundeswehrsoldaten und anderen Einsatzkräfte, die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren.
Wir gedenken heute auch derer, die bei uns – auch in unserer Heimatgemeinde – durch Hass und Gewalt Opfer geworden sind.
Wir gedenken der Opfer von Terrorismus und Extremismus, Antisemitismus und Rassismus in unserem Land.
Wir trauern mit allen, die Leid tragen um die Toten und teilen ihren Schmerz.
Aber unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen. Hier bei uns zu Hause und in der ganzen Welt.
In diesem Sinne lege ich nun zusammen mit Michael Feßler und Martin Kollmannsberger einen Kranz des Marktes Prien a. Chiemsee hier am Kriegerdenkmal nieder.
Fotos: Hötzelsperger