Kardinal Reinhard Marx würdigt die heute veröffentlichte Enzyklika „Fratelli tutti“ von Papst Franziskus als einen bedeutsamen Text, der zur rechten Zeit komme. Sie unterstreiche die Grundhaltung des Papstes, dass Kirche nicht um sich selbst kreisen dürfe, so der Erzbischof von München in Freising in seiner Würdigung. „Fratelli tutti“ schließe an die Sozialenzykliken früherer Päpste an und bringe mit dem Begriff der „sozialen Freundschaft“ einen neuen Aspekt ein. Die Enzyklika sei ein wichtiger Beitrag für die Schaffung von Frieden und Gerechtigkeit – innerhalb der einzelnen Nationen und in der Welt.
Kardinal Marx kommt am Montag, 5. Oktober, um 19.30 Uhr, auf Einladung der Katholischen Akademie in Bayern über die Sozialenzyklika ins Gespräch mit Anna Noweck, Professorin für Theologie in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München. Markus Vogt, Professor für Christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, moderiert unter dem Titel „Fratelli tutti! – Was steht drin?“. Das Gespräch wird live im Internet übertragen unter youtube.com/KatholischeAkademieinBayern. (glx)
Im Folgenden die Würdigung von Kardinal Marx im Wortlaut:
Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft – der Weg in eine bessere Welt nach Corona und der Beitrag der Religionen dazu
Papst Franziskus legt mit der Enzyklika „Fratelli tutti“ einen bedeutsamen Text vor, der in vielen Fragestellungen unserer Tage hochaktuell ist und genau zur rechten Zeit kommt, um die Debatten mit zu prägen. Ich bin sehr dankbar, dass der Papst seine Stimme so deutlich erhebt, um den Beitrag der Kirche, ja aller Religionen, zur Lösung der aktuellen Krisen, die unsere Welt erschüttern, einzufordern und einzubringen.
Papst Franziskus antwortet angesichts der gegenwärtigen Krisen mit „einem neuen Traum der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft“ (FT 6), der viele Menschen in aller Welt bewegt. Eine tiefe Sehnsucht nach Frieden, nach Gerechtigkeit, nach Versöhnung und vor allem nach Zusammenhalt ist in der Corona-Pandemie wie in einem Brennglas deutlich geworden, ebenso wie die weltweite gegenseitige Abhängigkeit und der Mangel an wirksamer globaler und multilateraler Kooperation. So analysiert der Papst ganz klar, dass die Corona-Pandemie „unsere falschen Sicherheiten offenlegte“ (FT 7) und es kein „Weiter so, wie vorher“ geben kann, sondern ein umfassend neues Denken und daraus folgendes Handeln einer geeinten Menschheitsfamilie dringlich vonnöten ist. Denn: „Das ‚Rette sich, wer kann‘ wird schnell zu einem ‚Aller gegen alle‘, und das wird schlimmer als eine Pandemie sein.“ (FT 36)
Papst Franziskus bleibt keineswegs bei der Vision stehen, sondern wird – wie wir es bereits aus „Laudato si‘“ (2015) und „Evangelii Gaudium“ (2013) kennen – konkret und nimmt zu aktuellen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen Stellung: Er thematisiert unter anderem Fragen der Migration, der Ökologie, der Digitalität, des Multilateralismus. Er äußert sich deutlich abgrenzend zu den scheinbar verlockenden und simplen ideologischen Antwortangeboten von Nationalismus, Populismus und Rassismus, und lehnt eindeutig Krieg und Todesstrafe in jeglicher Form ab. Diese Enzyklika ist damit ein wichtiger Beitrag für die Schaffung von Frieden und Gerechtigkeit – innerhalb der einzelnen Nationen und in der Welt.
„Fratelli tutti“ reiht sich konsequent in die bisherige Verkündigung von Papst Franziskus ein und schließt an die großen Sozialenzykliken der Päpste an, von „Pacem in terris“ (1963) und „Populorum progressio“ (1967) über „Centesimus annus“ (1991)“ bis hin zu „Caritas in veritate“ (2009). Papst Franziskus bringt, ausgehend von den Grundprinzipien der Katholischen Soziallehre, darüber hinaus einen neuen Aspekt ein, der wesentlich beitragen kann zu weltweiter Gerechtigkeit und Frieden. Es ist der Aspekt der „sozialen Freundschaft“, der zwar auf der bisherigen Sozialverkündigung aufruht, aber einen neuen Akzent setzt. Der Gedanke der „sozialen Freundschaft“ wird eingeführt als eine Voraussetzung, die sich im Grunde in allen Religionen in unterschiedlicher Form wiederfinden lässt und von allen Menschen, gleich ob gläubig oder nicht, geteilt werden kann. Sie beruht auf nichts weniger als der fundamentalen Anerkennung der gleichen Würde aller Menschen aller Zeiten, sowohl der Generationen vor uns als auch der künftigen. Papst Franziskus bringt sein Anliegen auf den Punkt: „Ich habe den großen Wunsch, dass wir in dieser Zeit, die uns zum Leben gegeben ist, die Würde jedes Menschen anerkennen und bei allen ein weltweites Streben nach Geschwisterlichkeit zum Leben erwecken.“ (FT 8) Die Quelle der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft liegt für die christliche Identität im Evangelium und im Leben Jesu Christi (vgl. FT 277) begründet. Am biblischen Gleichnis vom „Barmherzigen Samariter“ (Lk 10,25-37) deutet Papst Franziskus diese Grundlage aus und mahnt nochmals zur unabdingbaren Orientierung an den ausgeschlossenen, marginalisierten, armen, unterdrückten, schwachen Menschen, die er in den Mittelpunkt kirchlichen Handelns rückt: „Es ist keine mögliche Option, gleichgültig gegenüber dem Schmerz zu leben; wir können nicht zulassen, dass jemand „am Rand des Lebens“ bleibt. Das muss uns so empören, dass wir unsere Gelassenheit verlieren und von dem menschlichen Leiden aufgewühlt werden. Das ist Würde.“ (FT 68)
Eines der Leitmotive dieser Enzyklika ist das Motiv der Grenze, die Papst Franziskus als eines der zentralen Probleme unserer Gegenwart markiert. Es ist bezeichnend, dass die erste Zwischenüberschrift in der Einleitung lautet „Ohne Grenzen“ (FT 3). Papst Franziskus wiederholt seine Mahnung, keine neuen Grenzen und Mauern zwischen Menschen und Völkern zu errichten, sondern bestehende Grenzen gesellschaftlicher, ökonomischer und zwischenmenschlicher Natur zu überwinden durch eine vertiefte Haltung der Geschwisterlichkeit und Freundschaft, die bedingungslos die unveräußerliche Würde jedes einzelnen Menschen anerkennt und zum Kriterium des Dialogs und allen Handelns macht in allen Bereichen des Lebens.
Diese Forderung bezieht er ebenso auf das individuelle Verhalten wie auf institutionelles Handeln und fordert, eine „Kultur der Begegnung“ (FT 215) zu entwickeln, die auch die Peripherien mit einbezieht, und einen „Sozialpakt“ zu schaffen, der auf der unbedingten Anerkennung des Anderen beruht und „auch ein ‚Kulturpakt‘ [sei], der die unterschiedlichen Weltanschauungen, Kulturen oder Lebensstile, die in der Gesellschaft nebeneinander bestehen, respektiert und berücksichtigt.“ (FT 219)
Ein Anlass für diese Enzyklika ist sicher auch die große Sorge von Papst Franziskus, um den Frieden in der Welt und auch um den Frieden zwischen den Religionen. Er sieht die Gefahr eines „‚Weltkrieg in Stücken‘, weil die Schicksale der Nationen auf der Weltbühne zutiefst miteinander verflochten sind.“ (FT 259) Papst Franziskus greift mit dieser Enzyklika auf seine Begegnung mit Großimam Ahmad Al-Tayyib in Abu Dhabi 2019 zurück und stellt seine Überlegungen auch als Frucht dieses Gespräches dar: Es geht ihm darum, alle Religionen – auch das Christentum! – vor der Gefahr der Instrumentalisierung durch fundamentalistische und terroristische Kräfte zu warnen und er fordert zur klaren Distanzierung von solchen Tendenzen auf. Dabei wiederholt er abschließend in „Fratelli tutti“ den gemeinsamen Aufruf von Abu Dhabi, dem er sich verpflichtet sieht und stärkt den Auftrag der Kirche zur politischen und gesellschaftlichen Verantwortungsübernahme. Papst Franziskus bekräftigt, dass „zwischen den Religionen … ein Weg des Friedens möglich [ist]. Der Ausgangspunkt muss der Blick Gottes sein.“ (FT 281) Die Welt braucht gerade aus dieser Gemeinsamkeit heraus den konstruktiven Beitrag der Religionen zu Frieden und Gerechtigkeit. Das ist aber auch ein eindringlicher Appell an die Religionen selbst!
Papst Franziskus unterstreicht mit dieser Enzyklika die Grundhaltung seines Pontifikates, dass die Kirche nicht um sich selber kreisen dürfe, sondern dem Wohl der Menschen zu dienen habe. Sie solle – gerade in der Integration der Peripherien – ein „Haus mit offenen Türen“ (FT 276) sein. Sind wir das als Kirche wirklich schon? Der Papst fordert uns im Grunde auf, diese Vision anzunehmen und konkret zu leben.
Bericht: Erzbischöfliches Ordinariat
Foto: Hötzelsperger