Der Münchner Reisejournalist Karl Stankiewitz war im Rahmen seiner Corona-Tagebuch-Erstellungen diesmal im Herzen Münchens, u.a. am Platzl und beim Hofbräuhaus unterwegs – nachfolgend seine Beobachtungen und Festhaltungen: An der Glastür zu meiner Bankfiliale fängt mich am Donnerstag ein Herr in schwarzen Anzug ab und hält mir ein Gerät an die Schläfe, das aussieht wie ein schwerer amerikanischer Colt. Er soll, Corona-Keime aufspüren. Erst als der Colt bestätigt, dass ich fieberfrei bin, darf ich Geld abheben. Diese Prozedur gehört wohl zu den neuesten, abermals verschärften Hygiene-Maßnahmen, die quasi über Nacht – behördlich oder privat – in München und ähnlich in einigen anderen Städten eingeführt wurden.
Warum wohl? Letztes Wochenende wollte ich mir draußen in der Innenstadt die „Wirtshaus-Wiesn“ anschauen, mit der bekümmerte Großgastronomen ihre existenziellen Nöte ein wenig vergessen sowie den Münchnern wenigstens einen Hauch von Oktoberfeststimmung zufächeln wollten. Was ich sah, war ein einziger Biergarten zwischen Platzl und Viktualienmarkt. Überall wurde „o’zalpft“, auf allen Straßen und Plätzen ein Gewimmel von Wiesn-Süchtigen mit Entzugserscheinungen, jede Menge Dirndl und Lederhosen, Straßenmusik. Masken? Auch aber längst nicht überall. Abstand: eher selten. Fehlte nur das Schunkeln und Tanzen auf Tischen. Im schönen Hof des Hofbräuhauses fand ich keinen Platz. Und Stattreisenführer Max, der für die bevorstehende Migranten-Tour einen Meterstab zur Abstandmessung mitführt, wartete vergebens aufs Essen..
Alles schön und gut. Doch eigentlich konnte ein solcher Rummel nicht gutgehen. Das argwöhnten einige Stadträte und sogar eine Minderheit der darüber abstimmenden Wirte. „Sehr verstörend“ empfand dies Treiben unser Landesvater, der ja nicht im feiernarrischen München zuhause is, sondern im eher nüchternen Nürnberg. Einerseits sei es schön, Lebensfreude und Brauchtum zu sehen, sinnierte Söder, andererseits seien die Bilder vom Viktualienmarkt und aderen Plätzen „Anlass zu großer Sorge“.
Nicht zuletzt solche „Bilder“ und die Einschätzung, dass an diversen öffentlichen Stellen keinerlei Schutzmaßnahmen eingehalten wurden, veranlassten Oberbürgermeister Dieter Reiter am Montag zur Entscheidung, n die Regeln ab Donnerstag zu verschärfen. Das heißt: Auf allen notorisch belebten Plätzen der City und deren Zulaufstraßen herrscht Maskenpflicht – ein Wort, das unsereinen an Faschingsbälle früherer Zeiten erinnert. Viele Passanten, auch die Uninformierten, halten sich daran. Warum aber gilt das Maskengebot nicht auch für das immer bevölkerte Platz und im Tal nur auf den Gehsteigen? Dass obendrein Verbote für Verkauf und Verbrauch von Alkoholddinks für ganz bestimmte Zeiten erlassen wurden, gehört zu den Ungereimtheiten und mehrt die Unlust.
Die mit Bußgeld bewehrte Schockstarre, die zweite nach dem Lockdown, soll zunächst für sieben Tage.gelten Und was dann? Hängt ganz von den Fallzahlen ab. Auf jeden Fall wird nun Verzicht verlangt von uns eh schon gebeutelten Bürgern. Nicht mehr nur auf Ersatz-Oktoberfeste und ähnliche Pseudo-Gaudi sollen wir verzichten, sondern auch auf andere Gewohnheiten. Zum Beispiel auf das öffentliche „Zammahocken“ von mehr als fünf „Kumpeln“ (Originalton Hubert Aiwanger). Oder auf die eine oder andere Herbstreise ins Ausland. Denn die Bundesregierung hat nicht weniger als 14 EU-Länder ganz oder teilweise als Corona-Risiko-Gebiete ausgewiesen.
Gestrichen habe ich auch die geplante Bahnreise nach Forchtenberg, wo Sophie Scholl vor bald hundert Jahren geboren wurde. Das Städtchen, in dem mich der Weiße-Rose-Pfad interessieren würde, liegt nämlich knapp in Württemberg, und die Stuttgarter Regierung hat ausdrücklich „untersagt, in Beherbergungsbetrieben Gäste zu beherbergen, die sich in einem Land-, Stadtkreis oder einer kreisfreien Stadt innerhalb der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten oder darin ihren Wohnsitz haben, in dem der Schwellenwert von 50 überschritten wird“. In München schlug die Alarmglocke, als 55,93 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern binnen sieben Tagen gemeldet wurden.
Ähnliche innerdeutsche Grenzsperren wie Baden-Württemberg haben inzwischen einige weitere Bundesländer erlassen, so dass sich die Kollegen der „Abendzeitung“ eine gar schreckliche Schlagzeile einfallen ließen: „Münchner unerwünscht“. Ja, es ist leider wahr: die Hochburg des Frohsinns, die Weltstadt mit Herz und Schmerz, sie hat das niedersächsische Cloppenburg von der Spitze der deutschen Corona-Hotspots verdrängt. Vorübergehend, wie zu hoffen ist.
Ein Wiesn-Ersatz ganz anderer Art bietet die Villa Stuck. Der vielfach preisgekrönte Medienkünstler Philip Gröning hat in diesem städtischen Avantgarde-Museum ein „Phantom Oktoberfest“ installiert. In einem total dunklen Raum bekommt man von Leuten in Schutzanzügen einen Headset aufgesetzt.und befindet sich plötzlich in einem virtuellen Bierzelt. Um ihn flackern Lichter, bewegen sich Gestalten, tönen Musikfetzen und die dort üblichen Geräusche. Wer das Projekt voll erfassen will, muss allerdings versuchen, tiefer in den geistigen Überbau einzudringen, in die Scheinwelt des Instagram. des Selfie und der Künstlichen Intelligenz, die Gröning „durch den Zufall von Corona“ widerspiegeln will.
Bericht und Bilder: Karl Stankiewitz