Ein Beitrag von Marcus Spangenberg: „Die Bauten sind die Hauptlebensfreude“ – Zum 175. Geburtstag Ludwigs II. ein Blick auf die Entstehung und Besonderheit von Schloss Herrenchiemsee
Im Januar 1869 formulierte Ludwig II. gegenüber Sybilla von Leonrod ein folgenschweres Bekenntnis: „O es ist nothwendig sich solche Paradiese zu schaffen, solche poetischen Zufluchtsorte, wo man auf einige Zeit die schauderhafte Zeit, in der wir leben, vergessen kann.“ Durch die Planung und den Bau von Schlössern setzte er daraufhin seinen Wunsch nach eigenen Paradiesen in die Tat um. Es sind vor allem seine drei wichtigsten Bauten (Linderhof, Neuschwanstein und Herrenchiemsee) mit denen der bayerische Monarch auch 175 Jahre nach seiner Geburt (25. August 1845) international bekannt ist.
Bereits einige Monate vor den obigen Zeilen an seine ehemalige Erzieherin beauftragte Ludwig II. die Planungen für einen Schlossbau im Stil des und im Gedenken an den französischen Bourbonen-König Ludwig XIV., den „Sonnenkönig“. In einem langjährigen Prozess weitete sich Ludwigs Schlossplan von einem Einflügelbau zu einer Anlage mit fünf Flügeln, Kapelle und Theater, die das Vorbild Versailles zu kopieren schien. Letztendlich war das nun projektierte Schloss viel zu groß, um im bevorzugten Gebirgstal von Linderhof erbaut werden zu können.
1873 erwarb der König die Herreninsel im Chiemsee. Damit war endlich ein von der Größe und Abgeschiedenheit her geeigneter Bauplatz gefunden, um die Schlosspläne umzusetzen. Schloss Versailles bei Paris war die direkte Inspirationsquelle für die Gestaltung der Fassaden und einiger Innenräume, von denen der Spiegelsaal mit dem angrenzenden Friedens- und dem Kriegssaal nahezu kopiert wurde. Die Räume dürfen „nicht kleinlich ausfallen, eine bloß scheinbare Größe, erzielt durch perspektivische Mittel, reicht nicht aus, den Charakter der Herrlichkeit jener wundervollen Epoche zu veranschaulichen …“, befahl der König.
Einfluss verschiedener Bauten
Ludwig II. betrieb intensives Quellenstudium, ließ sich auf der Münchner Hofbühne Theaterstücke mit Themen aus der Zeit der Bourbonen mit Bühnenbildern nach den Räumen von Versailles aufführen und las alles, was er an geeigneter Literatur fand. Die Gestaltung der Innenräume und Wandbilder in Herrenchiemsee sollten zwar auf historischen Quellen zu Versailles beruhen, zugleich entsandte Ludwig II. seine Künstler mehrmals auch in andere Schlösser, darunter nach Augustusburg in Brühl bei Köln, in die Würzburger Residenz und nach Fontainebleau bei Paris. Die vielfältigen Eindrücke vor allem von den Dekorationen und Innenraumgestaltungen mussten die Künstler nach Angaben des Königs in ihren Plänen verwenden.
Insofern ist Herrenchiemsee, mit dessen Bau im Januar 1878 begonnen wurde, nicht nur in Teilen eine Kopie von Versailles, sondern eine Weiterentwicklung – wenn nicht sogar eine eigene Schöpfung Ludwigs II. Denn zum einen ließ er in Herrenchiemsee auf der Grundlage von Beschreibungen Räume nachbauen, die in Versailles schon gar nicht mehr vorhanden waren (zum Beispiel die „Escalier des Ambassadeurs“, das Prunktreppenhaus). Zum anderen ließ er Räume, für die es in Versailles kein Vorbild gibt, in den Baukörper einfügen (beispielsweise das Speisezimmer).
Auch die Gestaltung der Fassaden und der Gartenanlage erinnert zunächst durchaus an Versailles. Einzelne Details wurden sogar originalgetreu übernommen. Aber schon die Auswahl der Statuen, die die Gartenfassade des Schlosses schmücken (sie stellen als Allegorien die Königswürde heraus), und die Einbauten in den zwei großen Brunnenbecken gehen nicht auf Vorbilder aus Versailles zurück, sondern beweisen das individuelle und übergeordnete Denken Ludwigs II.
Auf die Idee, in den Wasserbassins direkt vor Schloss Herrenchiemsee Felskegel mit Skulpturen aufstellen zu lassen, kam der König, als er Fotografien vom Park des Königsschlosses La Granja de San Ildefonso bei Madrid mit ähnlichen gestalteten Brunnen sah (diese Residenz hatte sich ein Enkel Ludwigs XIV. im 18. Jahrhundert erbauen lassen): So steht im nördlichen Becken von Herrenchiemsee der Brunnen der geflügelten Ruhmesgöttin Fama, bei der Neid, Falschheit und Hass vom Felsen stürzen. Im südlichen Wasserbassin ist es die römische Glücks- und Schicksalsgöttin Fortuna, die auf der Spitze des Felsens auf einem Rad steht.
Symbolisches Programm
Von zentraler Bedeutung für das Verständnis von Schloss Herrenchiemsee, das aus Geldmangel und durch den frühen Tod des Königs nie fertiggestellt wurde, ist die grundsätzliche Trennung zweier Raumbereiche. Ludwig II. betrat zunächst die „Petits Appartements“, die eine symbolische Interpretation der Zeit Ludwigs XV. von Frankreich darstellen. Hier befinden sich die Privaträume Ludwigs II., wie sein von blauen Farben bestimmtes Schlafgemach und ein Arbeitszimmer. Wenn er einen schmucklosen Flur, der wie eine Schleuse wirkt, durchschritt, konnte Ludwig die „Grande Galerie“, die Spiegelgalerie, erreichen. Von ihr sind alle weiteren Räume der „Grands Appartements“ zugänglich, die allesamt als reine Symbolräume mit Denkmaleigenschaft angelegt sind. Im Mittelpunkt befindet sich – wie im Schloss Versailles – das ganz in Rot gehaltene „Chambre de Parade“. Dieses Paradeschlafzimmer, das mit dem entsprechenden Zimmer in Versailles kaum übereinstimmt, war 1881 als Erstes fertig (Ludwig XIV. hatte sein Bett in Versailles als Mittelpunkt seines Königreiches und der Welt verstanden. Seinem Anspruch nach war die Sonne mit seinem Aufstehen auf- und mit seinem Zubettgehen untergegangen).
Bayerisches war verboten
Ludwig II. achtete darauf, dass „alles was Bayrisch ist … in Chiemsee entfernt“ wird, wie einer seiner unmissverständlichen Befehle an die Bauverantwortlichen und Künstler lautete. Nichts durfte augenscheinlich an die Existenz eines Königs von Bayern erinnern. Dahinter steckt ein kompliziertes, durchdachtes, vernetztes und äußerst individuell konstruiertes Konzept zum Bau und zur Ausstattung. Schloss Herrenchiemsee war entgegen anderer zeitgleich entstandener Herrschaftsarchitekturen nicht als Machtdemonstration und Herrschaftslegitimation nach außen gedacht, sondern wirkten als Reflexion nach innen – zum Erbauer, der sich immer mehr vom wahren Leben zurückzog. Für das Königtum von Gottes Gnaden, das Ludwig nicht realisieren konnte, errichtete er sich Symbolräume. Diese gaben ihm – ebenso wie das Bauen an sich – Halt und Lebenssinn. Sie sind demnach ein Ergebnis seiner Verunsicherung.
Als seine persönliche und finanzielle Lage im Mai 1886 immer auswegloser erschien, wandte er sich Hilfe suchend an einen Vertrauten: „Die Bauten sind die Hauptlebensfreude. Ich denke, seit alles schändlich stockt, an Abdanken, Selbsttödtung. Der Zustand muß aufhören, die Bauten dürfen nicht mehr stocken … Mein Lebensglück hängt davon ab.“
Das Ende kennen wir.
Literaturempfehlung: Marcus Spangenberg, Ludwig II. – Der andere König, Regensburg 2019 (4. Auflage), Verlag Friedrich Pustet und vom selben Autor „Linderhof. Erbautes und Erträumtes im Gebirge“, Regensburg 2018, Verlag Friedrich Pustet
Veranstaltungstipp: https://www.bayern.by/erlebnisse/stadt-land-kultur/kultur-erlebnistipps/sonnenkoenig-und-schneerahmtoertchen/