Gesundheit & Corona

Das große Corona-Tagebuch von Karl Stankiewitz

Veröffentlicht von Anton Hötzelsperger

Karl Stankiewitz aus München – mit 91 Jahren einer der ältesten aktiven Journalisten in Deutschland – hat die Corona-Krise von Anfang an bis heute in einem Corona-Tagebuch festgehalten. Dieses wollen wir hiermit veröffentlichen – weitere Beiträge werden wir zukünftig in der Rubrik „Aktuelle Corona-Informationen“ einstellen. Wir danken dem erfahrenen Reise-Journalisten für seine detaillierten und lesenswerten Berichte und wünschen ihm sowie allen Leserinnen und Lesern alles Gute, vor allem eine stabile Gesundheit.

Foto von Thomas Stankiewitz – Karl Stankiewitz 2018 beim Besuch des Ahornbodens

                                                                                                                                     Das große Corona-Tagebuch von Karl Stankiewitz

  1. Dezember 2019. Im Stadtteil Hankou von Wuhan in Zentralchina, wo auf dem Markt lebende Fische, Schlangen, Gürteltiere, Reptilien und Fledermäuse verkauft wurden, wird der erste Fall bekannt. Die Symptome, hauptsächlich Atemwegserkrankungen, gleichen denen einer schweren Grippe, wie sie das seit den 1960er-Jahren bekannte Sars-Virus verursacht. (SARS ist die Abkürzung für „Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom).

  Schon seit April 2012 grassierte in Asien  ein Influenza-Virus der Gruppe Sars-CoV (Abkürzung für Coronavirus). Diesem sind bis heute immerhin 868 Menschen zum Opfer gefallen. Das medizinische Kürzel: Corona. Es ist das lateinische Wort für Kranz; das Virus erscheint im Mikroskop in Form eines Kranzes. Im März 2019 warnten – wie erst später bekannt, aber wenig beachtet wurde – vier Forscher des Instituts für Virologie an der Universität Wuhan  eindringlich vor dem möglichen Auftauchen eines neuen Coronavirus.

In Wuhan jedoch handelt es sich j um ein mutiertes Virus. Mitte Dezember  sind bereits mehr als ein Dutzend Einwohner des Viertels nachweisbar davon  identifiziert. Jedenfalls scheint das neuartige, mutierte Virus gefährlicher, virulenter zu sein als sein Vorgänger. Die Wissenschaftler bezeichnen es als Sars Covid-19  Die 19 bezieht sich auf das Entdeckungs­jahr. Schnell breitete sich der  unbekannte Erreger überall in der Volksrepublik China aus, bald auch in Nachbarländern. Die Zahlen der Infizierten explodieren.

Allmählich aber wird die Vermehrung des weiterhin rätselhaften Erregers im Ursprungsland China eingedämmt, nachdem die anfangs zögerli­che Regierung in Peking drasti­sche Maßnahmen angeordnet hatte: die Vernichtung von Lebensmitteln, Handelsverbote, Schutzmaskenpflicht, Ausgangssperren, landesweite Schließung von Schulen, Geschäften, Fabriken, Abriegelung der hauptsächlich betroffenen Provinz (die erst am 8. April 2020 beendet wurde). Inzwischen ist der unheimliche, unsichtbare Feind in immer mehr Ländern eingedrungen.

 

  1. Januar 2020: In der Süddeutschen Zeitung lese ich eine Kurzmeldung, deren Überschrift aus drei Wörtern besteht: „Lungenkrankheit in China“. Nichts Besonderes an einem Tag, als sich alle Welt über den tödlichen Angriff der USA auf einen iranischen General im Irak erregt. Ein Krankheitserreger im fernsten Osten, na, wenn schon.

 

  1. Januar 2020: Ein 33-jähriger Angestellter der Autozulieferfirma Webasto in Stockdorf bei Mün­chen bekommt Halsweh, Schüttelfrost und Gliederschmerzen, Fieber und Husten folgen am nächs­ten Tag. Trotzdem Am 27. Januar geht er wieder zur Arbeit. Der Mann hatte am 20. und 21. Januar  bei einer Schulung Kontakt mit eineer Kollegin aus Shanghai, die nach ihrer Rückkehr aus China am  26. Januar positiv auf Sars-CoV-2 getestet wurde. Dem Test durch Rachenabstrich muss sich nun auch der vermeintlich Grippekranke unterziehen, mit demselben Ergebnis. Insgesamt 122 Mit­arbeiter werden negativ getestet.

 

  1. Januar: Bei drei weiteren Angestellten wird eine Infektion festgestellt. Alle Erkrankten müssen in Quarantäne. Die Firmenzentrale schließt.

 

  1. März. Alle Webasto-Patienten sind genesen und aus dem Schwabinger Krankenhaus entlassen. Mit Journalisten will keiner sprechen. „Die letzten Wochen waren für die Kollegen nicht einfach und sie freuen sich, wieder bei Freunden und Familien sowie teilweise bereits in ihrem Alltag zu­rück zu sein,“ teilt mir die Firmenleitung mit.

 

  1. März. Die Hiobsbotschaften überstürzen sich. Mehrere Länder, voran Italien, Israel und die USA, verfügen Reisebeschränkungen. Die wichtige Weltmesse des Tourismus, die ITB in Berlin, wird abge­sagt, ebenso die Internationale Handwerksmesse in München. Vielerorts werden alle Großveranstal­tungen verboten. Das Landesamt für Gesundheit in München, wo jetzt im Stadtgebiet sechs Perso­nen infiziert und 80 in Quarantäne verbannt sind, will eine Million Atemschutzmasken kaufen. Es scheint Engpässe zu geben.

Ob das Startbierfest auf dem Nockherberg storniert werden soll, wird noch heiß diskutiert. Der traditionelle Starkbieranstich ist aufwändig vorbereitet worden, die Darsteller sind hochmotiviert, das ganze bayerische Volk wartet sehnlich auf die große Derblecke. Auch wenn der allgemeine Spaßlevel stark gesunken ist. Vorgeschlagen wird ein Kompromiss: Wenigstens das Singspiel könn­te doch vor leerem Saal, also ohne Politprominenz, wie einstudiert aufgeführt und vom Fernsehen übertragen werden.

 

  1. März. Nach tagelanger Abstimmung mit allen relevanten Behörden entschließt sich die Paulaner­brauerei, das Fest mit Rücksicht auf die Gesundheit der längst geladenen Politiker nicht aufführen lassen, weder mit Publikum noch ohne fürs Fernsehen. Man wolle jedoch alle Anstren­gungen , um die sogenannte Salatvorprobe „zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden zu lassen“. Die Kulissen kommen ins Depot, die Texte dürften bis zum Sanktnimmerleinstag veralten. Das Bayeri­sche Fernsehen ersetzt die Frischkost durch Konserven. Die Wirte anderer Bierpaläste schenken ihr Frühjahrsstarkbier weiter aus, stellen aber Desinfizierwasser bereit und verbieten Händeschütteln.

 

  1. März. Die Zahl der Infizierten in München erhöht sich um 16 und klettert auf insgesamt 60 Fälle. Die Staatsregierung beschließt, dass keine Veranstaltungen mehr mit mehr als tausend Teilnehmern stattfinden dürfen. Das trifft vor allem die großen Münchner Theater, die Fußballstadien und etliche Bierhäuser. Nur die Vorbereitungen fürs Oktoberfest laufen vorerst weiter. Das Verbot von Großver­anstaltungen soll ja nur nur „bis Karfreitag“ gelten. Ostern, so scheint es, ist alles vorbei.

 

  1. März. Große Teile des öffentlichen Lebens sind lahmgelegt. Auch der Kommunalwahlkampf. Propaganda, Information und Kommunikation verlagern sich weitgehend auf die „sozialen Netz­werke“.

 

  1. März; Die Weltgesundheitsorganisation erklärt die neue SARS-Epidemie zur Pandemie , zur weltweiten Seuche. Sie hat bereits 127 749 Menschen erfasst. Bayern zählt bisher 558 und München 39 Infizierte. Von nun an trifft auch auch München Schlag auf Schlag. Erste Schulen schließen. Veranstalter, Reisebüros und Hotels melden erste Absagen. Personal wird gekündigt oder in Kurzarbeit geschickt, Büroangestellte zum Home-Office. Die nötige Kommunikation verlagert sich mehr und mehr auf den E-Mail-Verkehr, in die Video-Konferenz und die sozialen Netzwerke. Endlich wächst denen wirklich eine soziale Funktion zu, bisher waren sie für viele User doch eher Spielgeräte.

 

  1. März. München hat wieder 68 Infizierte mehr und somit 313 getestete Corona-Fälle. Die Stadt lässt auf dem Gelände der ehemaligen Bayernkaserne, die zuletzt ein Hotspot für Flüchtlinge war, ein Zelt als Drive-in-Station für Schnelltests aufstellen. Wer positiv ist, muss zwei Wochen zuhause in Quarantäne. Auf der Theresienwiese, wo eigentlich ein Frühlingsfest geplant war, soll bald ein zweites Testzentrum für Verdachtsfälle folgen.

 

  1. März. Ein wahrlich schwarzer Freitag. An den Börsen stürzen die Kurse auf breiter Front, der Dax in München um ganze zwölf Prozent.Auch die Öl- und die Goldpreise befinden sich auf Sink­flug. Die Wirtschaft schreckt auf. Ganze Industrien, nicht zuletzt in der ohnehin kriselnden Auto­branche, schalten auf Kurzarbeit. Bis zu einzelnen Werksschließungen soll es bei BMW in Mün­chen-Allach aber noch ein paar Tage dauern.

 

  1. 1 März, ein sonniger Sonntag. Kommunalwahlen in Bayern; in München und anderen Großstäd­ten werden auch die Oberbürgermeister neu gewählt. Frühmorgens ist das Wahlzimmer in der Ker­schensteinerschule noch leer. Alle Wahlhelfer tragen Handschuhe. Ein Wasserbecken mit Seife und Handtuch steht für die erst noch erwarteten Wähler bereit. Für einige der 775 Münchner Wahlloka­len mussten am Abend zuvor noch Lehrer gewonnen werden, weil ein Viertel der Wahlhelfer – aus vielleicht übertriebener Vorsicht – abgesagt hatten. Man sieht auch Mundschutz; eine Maske mit langem Schnabel gleicht, wie ein Zeitungsbild zeigt, den grausigen Pestmaske des Mittelalters.

Corona zum Trotz fahren wir, nachdem ich wie jeder zweite Wahlberechtigte in München meine­Bürgerpflicht erfüllt habe, hinaus ins Oberland. Die Züge der BOB nach Bad Tölz sind gut besetzt, noch ist der Eisenbahnverkehr nicht eingeschränkt. Und die besonnten Vorplätze beider Cafés am Isarskai bersten schon am Vormittag von Besuchern. Jemand zitiert seinen Goethe: „Aus dem hoh­len, finstern Tor drängt ein buntes Gewimmel hervor. Jeder sonnt sich heut so gern…“ Man könnte bei dem vorzeitigen Osterspaziergang allerdings auch an eine andere Faust-Szene denken: „Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er es am Kragen hätte.,..“

Das teuflische Virus hat bis zu diesem schönen Sonntag im schönen Land Bayern weitere Men­schen in Stadt und Land gepackt. Insgesamt hat die Zahl der positiv auf Sars-CoV-2g getesten Bay­ern die Tausendergrenze überschritten.  Aus Würzburg wird der dritte bayerische Todesfall aus einem Seniorenheim gemeldet.

Noch am Sonntag tritt um 15  Uhr im vierten Stock der Staatskanzlei der Krisenstab zusammen. Fünf Landesminister beraten sich mit Experten. Um die Zeit weiterer Ansteckungen  auszudehnen und sich derweil medizinisch ausreichend organisieren zu können, werden weitere, teils drastische Einschränkungen im öffentlichen Leben von Stadt und Land beschlossen.

 

  1. März. Für Bayern gilt der Katastrophenfall. Das gibt Söder am Morgen bekannt, am Nachmit­tag folgen die anderen deutschen Landesregierungen vorbehaltlos dem bayerischen Beispiel., und auch Kanzlerin Angela Merkel schließt sich dem an, „was wir seit 70 Jahren Bundesrepublik nicht tun mussten. aber jetzt tun müssen“.

Konkret bedeutet das die sofortige und unbefristete Schließung aller Schwimmbäder, Thermen, Kinos, Tagungs- und Veranstaltungsräume, Clubs, Bars und Diskotheken, Theater, Museen, Biblio­theken, Vereinsräume,  Sporthallen, Fitnessstudios, Tierparks, Aus- und Fortbildungseinrichtungen, Musik- und Volkshochschulen sowie Jugendhäuser. Selbst Spielhallen und Bordelle stehen auf der staatlichen Tabuliste. Auf Sport- und Spielplätze ruht der Betrieb vorerst nur bis zum 9. April  Die christlichen Kirchen haben schon von sich aus ihre Gottesdienste eingestellt. Inzwischen erwägt man, dies verpflichtend vorzuschreiben, und zwar allen Religionsgemeinschaften. Der Dom ist den­noch gut besucht. Viele Münchner beten und bitten, das Unheil abzuwenden. Überall brennen Ker­zen in der Dunkelheit.

In meinem Altstadtviertel Lehel scheint das gewohnte Gewimmel an diesem Werktag deutlich nachgelassen zu haben. Immerhin sind ja alle Schulen und Kitas schon seit Freitag geschlossen. Am Eingang meiner noch geöffneten Bank hängt ein Zettel mit einem rührenden Angebot von Schülern, denen die neu gewonnene Freizeit gerade recht kommt. älteree Mitbürgern bei Einkäufen zu helfen. Ähnliche Angebote  finden sich  auf„nebenan“, einer Homepage für Nachbarschaftshilfe.

Ein  Zettel liegt auch nebenan, auf jedem zweiten Tisch meines Stammlokals. Darauf wird gebe­diesen Tisch aus hygienischen Gründen frei zu lassen. Außer einem Pärchen bin ich der ein­zige Mittagsgast in dem großen Restaurant. Die junge Kellnerin ist noch eine Spur aufmerksamer als sonst, sie bittet zum Händewaschen an die Theke („Da müssen Sie nicht extra in die Toilette ge­hen“) und reicht ein Fläschen zum Desinfizieren (was aber nach Ansicht eines im Radio interview­ten Hygienikers aus Halle gar nicht nötig wäre, weil Seife allein die Fettschicht der Viren zerstöre).

Per Rundfunk und Computer werde ich den ganzen Montag über von Negativmeldungen heimge­sucht. Ununterbrochen hagelt es Absagen von allerlei Veranstaltungen (auch meine eigene Lesung aus meinem Buch „Münchner Meilensteine“ entfällt). Eine E-Mail spuckt Verhaltensregeln aus („Das Virus ist nicht hitzebeständig, trinken Sie viel heißes Wasser“). Diese sollen von einem in China forschenden italienischen Arzt stammen. Bald erfahre ich, dass es sich um eine von vielen Fake News handle. Allerlei Gauner sind bereits in Sachen Corona auf Dummenfang.

Kurz erwähnt auch Markus Söder am Abend im Bayerischen Rundfunk im Gespräch mit dem Chefredakteur die sich mehrenden Falschmeldungen. „Wir werden Menschen erleben, die Großarti­ges selbstlos leisten,“ meint der Ministerpräsident. Doch es gäbe auch andere Leute, denen derlei Verwirrungsmanöver offenbar Spaß machten. Der CSU-Politiker ist schnell und reibungslos in die Rolle des obersten Krisenmanagers hineingewachsen – so wie einst seine sozialdemokratischen Kollegen Helmut Schmidt und Gerhard Schröder bei den Hochwasserkatastrophen an Elbe und Oder. Jedenfall profitiert von der Krise, wie erste Wahlergebnisse erkennen lassen, schon mal der mit sicherer Hand operierende Noch-Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD).

An diesem Montag steigt die Zahl der registrierten Infektionen um 18 auf insgesamt 260 Fälle. In der  ganzen Woche zuvor waren genau 200 Bewohner der Landeshauptstadt nachweisbar erkrankt. Weitere 66 Infizierte meldet der Landkreis München.

 

  1. März. Eigentlich wollte ich mir Sigmar Gabriel anhören. „Mehr Mut“ heißt sein Buch, über das der manchmal krisengeschüttelte SPD-Politiker im Café Luitpold reden wollte. Die Diskussion ist natürlich auch gestrichen. Doch viel mehr als die Politiker sind die vielen Künstler von der verordneten Kulturpause betroffen. „Das Geldverdienen wird sich wohl in der Zukunft für Jungs wie mich anders gestalten müssen,“ schrieb mir mein Freund, der Isar-Indianer Willy Michl. Trotzdem schreckt ihn der „Supergau“ wenig: „Ich hab was zu bieten, und die Zwischenphase werd ich auch übersteh’n, man muss immer guter Dinge sein.“

Weniger gelassen gibt sich ein anderer Freund, Dietmar Holzapfel – obwohl er, Münchens rosaroter Vormann, schon während der als „Schwulenseuche“ verschrienen Aids-Epidemie vergleichbare  Eingriffe ins Privatleben erlebt hat. Dass er sein Restaurant „Deutsche Eiche“ saant legendärer Sauna jetzt sofort zugesperrt hat, nimmt er hin.  „Sehr traurig“ aber stimmt ihn das Verbot, seine Mutter im Altersheim zu besuchen. „Wenn das Ende kommt und kein Verwandter ist dabei, möchte man so von der Welt gehen?“.

Auch meine Enkeltochter Tania kann mich, weil ich mit  meinen 91  Jahren und Vorerkrankungen zur Hochrikogruppe gehöre,  bis auf weiteres nicht mehr besuchen. Als Flugbegleiterin der Lufthan­sa, die 700 ihrer 723 Maschinen am Boden hält, hatte sie Kontakt mit vielen Ausländern, hätte sie jetzt viel freie Zeit, die immerhin zum Backen eines Kuchens reicht.

„Zahl der Infizierten in München extrem gestiegen,“ meldet um 16.40 Uhr der Ticker. Und aus dem Rathaus lässt OB Reiter digital wissen, was die Ausrufung der Notstandslage für die Stadt be­deutet: Ab Mittwoch bleiben auch die Ladengeschäfte des Einzelhandels zu. Ausgenommen sind der Lebensmittelhandel, Getränkemärkte, Banken, Apotheken, Drogerien, Sanitätshäuser, Optiker, Hörgeräte-Akustiker, Post,Tierbedarf, Bau- und Gartenmärkte, Tankstellen, Reinigungen und der On­line-Handel. Diese dürfen sogar bis 22 Uhr öffnen, an Sonn- und Feiertagen von 12 bis 18 Uhr.

Das Sozialreferat wird von Reiter angewiesen, schnell und unkompliziert Hilfe zu organisieren, wenn Bürger etwa Unterstützung beim Einkaufen brauchen oder kurzfristig in finanzielle Nöte kommen und die Miete oder Lebensmittel nicht mehr bezahlen können. In Kürze soll es dazu eine ei­gene Hotline geben. Bis dahin kann sich jeder, der jetzt rasch Hilfe benötigt, an die Sozialbürger­häuser wenden. Für Gastronomie, Handel und Veranstalter hat die Staatsregierung finanziellen Ret­tungsschirm angekündigt. Für Mitarbeiter, die jetzt einfach gekündigt werden, schlägt Reiter Job-Börsen vor. Für die OB-Stichwahl, die zum 29. März nur noch per Briefwahl ablaufen soll, hat der Kandidat jetzt kein biss­chen Zeit.

Tatsächlich meldet das städtische Gesundheitsamt für diesen Montag nicht weniger als 99 neue In­fektionen. Die Kurve ist noch keineswegs abgeflacht. Das Robert-Koch-Institut hebt die Gefähr­dungsstufe von „mäßig“ auf „hoch“ an. Die Kehrseite: Ein paar Verrückte in Stadt und Land wollen an­scheinend ihre Freiheit feiern oder verteidigen; Sie veranstalten „Corona-Partys“, was Söder ausdrücklich miss­billigt. Auch Reiter findet, man müsse sich „Gedanken machen, wenn man sich die Biergärten an­schaut und andere zentrale Plätze“.

 

  1. März. Zusehends leeren sich jetzt aber doch die Biergärten sowie die Straßen, obwohl hierzu­lande, anders als in mehreren Nachbarländern, keine Ausgangssperre angeordnet ist. Noch nicht. Sie wäre für Reiter „eine klassische Ultimo ratio“. Jedenfalls wird die Altstadt beinahe zur Geisterstadt. Nur sehr wenige der wenigen Passanten, offensichtlich Touristen aus Asien, tragen eine Binde vor Mund und Nase. Vorsicht ist für sie geboten. In der Fasanerie hat ein Bosnier eine Chinesin mit einem Desinfektionsmittel besprüht, wobei er brüllte: „Corona, Corona.“

Am Viktualienmarkt ist Ausverkauf angesagt. Auf Fischgerichte beispielsweise  gibt es 60 Prozent Rabatt. Das weltweit berühmte Hofbräuhaus hat bereits geschlossen; einige Traditionshäuser folgen  bald, obwohl sie ja bis 15 Uhr offenhalten dürften. Der Augustinerwirt schätzt, dass in den nächsten Tagen etwa 80 Prozent aller Gaststätten in der Altstadt zumachen werden. Es lohnt einfach nicht mehr, zumal höchstens noch 30 Gäste gleichzeitig mit je 1,5 Meter Abstand bewirtet werden dürfen.

Auch die Mehrzahl der kleinen Händler will die Jalousien runter lassen. Einige hoffen, durch Online-Verkauf oder Kurzarbeit über die Krise zu kommen. Andere verlangen Kreditkarten statt Bargeld, das sie – fälschlich – für kontaminiert halten. Der Handelsverband rechnet damit, dass in München täglich etwa 40 Millionen Euro Umsatz wegbrechen. Nur die Kaufhäuser und Großmärkte merken noch nichts von einer Rezession, im Gegenteil: die Leute kaufen wie wild auf Vorrat.

Mich erinnert dies an eine noch schlimmere Zeit. Im Herbst 1946, als nicht nur München hungerte, hatte mich die Mutter öfter mitgenommen zum „Hamstern“. Mit einem Löffel in der Hand hatten wir Bauernhöfe in der Umgebung abgeklappert, waren froh und dankbar für einen Batzen Butter oder eine Tüte Mehl. Bieten konnten wir für solch kleine Spenden nichts, während Andere ihre Teppiche oder Silberbestecke mitbrachten aufs Land.

Komischerweise sind – und das nun schon seit Tagen – Klopapier Kekse und Müllbeutel besonders gefragt. Mehr als sonst kaufen Erwachsene auch Spiele, Konsolen und Laptops, man macht sich wohl auf längeres Zuhause gefasst. Da und dort werden, des Andrangs wegen, Verkäuferinnen als Aushil­fe gesucht. Zum Glück versichern die Verantwortlichen, dass eine Versorgungskrise nicht zu erwar­ten sei. Nur Desinfektionsmittel werden rar. Ein Apotheker mixt sie selber.

Kein Engpass, alles vorrätig, versichert meine Apothekerin. Freundlicher als gewohnt reicht sie mir als einzigem Kunden die verordneten Medikamente unter einer nagelneuen Wand aus Kunstglas durch und schiebt noch drei einschlägige Zeitschriften nach. Die bunten Blätter wissen noch nichts von Corona, sie titeln auf den Frontseiten etwa: „Voller Kraft“ und „Blutdruck unter Kontrolle“.  Lobenswerterweise mailt die Apotheken Umschau täglich einen Newsletter mit den aktuellsten, sehr genauen und allgemein verständlichen Neuigkeiten .

An diesem  Mittwoch werden dem Gesundheitsamt wieder 150 Münchner gemeldet, die positiv auf den Virus getestet wurden. Ein ganzes Drittel mehr als am Tag zuvor.

 

  1. März. Im Hinblick auf China und Italien müsse man davon ausgehen, dass die Herausforderun­gen noch wachsen werden, „und zwar gewaltig“, zitiert die Süddeutsche Zeitung den Professor Dr. Clemens Wendtner von der Abteilung für Infektiologie im Schwabinger Krankenhaus. Er und sein Team versorgen derzeit 19 Corona-Patienten, sechs davon in der Intensivstation, die anderen leiden zum Glück nur an milden Symptomen.

Die 1907 gebaute Klinik hat deutschlandweit – neben der Berliner Charité – wahrscheinlich die in­tensivsten und längsten Erfahrungen mit schweren Influenza-Fällen. Schon vor hundert Jahren waren hier die meisten Opfer der – nicht minder gefährlichen – „Spanischen Grippe“ therapiert worden. Und hinter den sepiabraunen Mauern behandelte und beobachtete man auch neun der 14 ersten Deutschen, die von der neuen Seuche befallen wurden: Es waren die durch Kon­takt mit einer chinesischen Kollegin infizierten Mitarbeiter der Firma Webasto. Ihnen soll es inzwischen gut gehen.  Seither hatte man sich im Schwabinger Krankenhaus weitgehend auf die neue Herausforderung konzentriert. Ärzte und Pflegepersonal wurden von bürokratischen Tätigkeit so weit wie möglich entlastet. 200 zusätzliche Beatmungsgeräte wurden bestellt. Crash-Kurse sollen auf einen weiteren Ansturm vorbereiten. Ein zweites Gebäude in Schwabing ist schon in Bau. In allen fünf städtischen Großkliniken werden Isolierstationen erweitert. „Der Kampf gegen das Virus wird sich in den Klini­ken abspielen,“ meint Axel Fischer, der Geschäftsführer der München Klinik GmbH, die sich auf ihre 7500 Mitarbeiter verlassen kann.

Auch die staatlichen Kliniken sind zum Abwehrkampf gerüstet. „Jetzt warten wir, bis der Feind kommt,“ sagt Professor Ralf Schmidmaier von der Task Force. In Großhadern liegt einer der ersten Viruspatienten schon seit 29. Februar in Le­bensgefahr; der 65-Jährige wurde beim Skifahren im Tiroler Seuchenherd Ischgl  angesteckt. Auch drei Ärzte, sechs Schwestern und ein Medizinstudent wurden bereits infiziert. Mit wei­teren Ausfällen muss gerechnet werden, deshalb wurden Studenten und Ärzte im Ruhestand als Re­serven angeheuert.

Ansonsten geht der ärztliche Dienst in der Stadt offenbar seinen gewohnten Gang. Ich erfahre, dass meine für morgen terminierte Augenoperation keineswegs abgesagt ist. Seit Tagen leistet ein großer Teil des medizinischen Personals freiwillige Überstunden. Viele Ärzte stellen sich zum Tes­ten bei Verdachtsfällen zur Verfügung, da die beiden vom Gesundheitsamt eingerichteten Drive-in-Teststationen bereits überlaufen sind. Dr. Karl Steffen Gerhard hat den Kleinbus, mit dem er sonst in Ur­laub fährt, vor seine Praxis geparkt, um darin Abstriche anzubieten. Das hätte den Vorteil, dass die Testperson gar nicht erst ein Wartezimmer betreten muss und eventuelle Viren an andere Patienten weitergibt.

Vor einem Weingeschäft im Lehel steht ein Rudel nicht mal ganz junger Frauen und Männer unter der Mittagssonne, ziemlich fröhlich wie in Party-Stimmung und ziemlich nah zusammen. Das neue Wort „Social Di­stancing“ scheint ihnen unbekannt zu sein. Mein Begleiter meint, das müsse doch nicht sein. Der immer gut aufgelegte Kellner vom nahen Esslokal ruft einer jungen Frau zu, sie möge nicht so nahe herankommen, „wegen Ebo­la“. Es soll wohl ein Witz sein. Später, in einer Fernsehrun­de,  kursiert das Söder-Wort  vom „Charaktertest“.

Social Distancing hier – Home-Office dort. (Ohne Anglizismen geht es auch hier nicht). Die Ge­fährdung durch mangelnde Distanz hat viele Angestellte mehr oder weniger freiwillig veranlasst, mit digitaler Hilfe zu Hause zu arbeiten. Außerdem haben Ladenschließungen, Kurzarbeit, die den Älteren empfohlene Ausgangssperre und die elterliche Betreuung „schulfreier“ Kinder zu einem neuen Phänomen beigetragen, das sich ein großer Teil des Lebens nunmehr in den eigenen vier Wänden abspielt. Daraus wieder enrtwickelt sich ein neues Phänomen, das man als soziale Isolation bezeichnen könnte, vulgo als „Lagerkoller“.

Um dem vorzubeugen lassen sich die Medien allerlei einfallen. Die Abendzeitung bringt Tipps für das ungewohnte Leben „dahoam“, die aber, obwohl von Promis gefüttert, nicht viel mehr bie­ten als Kartenspiele und Kreuzworträtsel. Der Münchner Merkur legt nach mit König-Ludwig-Fragen und Kochrezepten zur Immunstärkung. Sinnvoller erscheint mir die von der Süddeutschen Zeitung zusammengetragene Liste von Kultur-Darbietungen, die über verschiedene Streaming-Kanäle laufen, und die Kolumne „Alles zu, Zeitung auf“. Sie will die zuhause bleibende Kinder täglich mit Rätseln, einem Witze-Duell und dergleichen unterhalten – zur „Prophylaxe einer Quarantäne-Migräne“.

Am Abend des Tages ist die Zahl der Neuinfizieren noch einmal um 173 gestiegen. Die Kurve knickt also keineswegs ab, ein Gegenteil. In Deutschland kletterte der Zuwachs innerhalb dieses  einen Tages um 2801 Fälle – auf genau 10 999 Virus-Träger, wobei außerdem mit einer hohen Dunkelziffer ge­rechnet wird.

 

  1. März. „Ein exponentielles Wachstum“ – so vernimmt man am Morgen im Radio die etwas gebrochene Stimme von Professor Dr. Lothar H. Wiele. Klingt kompliziert. Gemeint ist schlechthin: das Wachstum relativ zum Zeitauflauf zu. Der Präsident des tonangebenden Robert-Koch-Instituts in Ber­lin-Wedding sagt nüchtern voraus:, „Die Zahl der Toten wird weiter steigen.“. Dieser Tage erst sind drei meiner Freunde gestorben, wenn auch nicht wegen irgendwelcher Viren. Als hätten sie sich noch vor vielleicht schlimmen Zeiten verabschieden wollen, der Horst in Berlin, der Franz in Bad Feilnbach und der Oskar in München.

In solchen Stunden, da der Tod plötzlich aus dem Hintergrund hervortritt, macht man sich als Angehöriger der Hochrisikogruppe seine Ge­danken. Unwillkürlich klicke ich den Sound-Titel „Mein Testament“ und höre das wunderbare Lied von Reinhard Mey mit dem tröstlichen Schluss: „Dieser ist mein letzter Wille, doch ich hoffe sehr dabei, dass der Wille, den ich schreibe, doch noch nicht der letzte sei…“ Indes, die Epidemie trifft sogar die Toten. Auf Münchens Friedhöfen sind Umarmen, Weihwasser und das Werfen von Erde aus­drücklich verboten. Empfohlen wird: „oneline kondolieren“.

Heute ist übrigens der „Welttag des Glücks“, wie allein der Münchner Merkur zu melden weiß. Von Glück ist freilich weit und breit nichts zu ahnen. Außerdem wäre der 200. Geburtstag von Fried­rich Hölderlin zu feiern. Da passt es doch gut, dass Buchhändler, die nur noch online verkaufen, das berühmte Dichterwort plakatieren: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“

Die Gefahr ist überall und hat einen schönen lateinischen Namen. Kein Wunder dass das Straßen­bild jetzt deutlich ausgedünnt ist. Wenig Autos,wenig Radler, noch weniger Passanten. Und auch weniger Patienten als sonst in der Augenklinik. „Das Angstniveau ist unterschiedlich,“ begründet der Anästhesist die vielen Terminabsagen. Mein Makula-Eingriff verläuft schnell und problemlos. „Scheißgeschäft,“ schimpft dann der Ta­xifahrer, der mich vorsichtig auf den Hintersitz platziert. Sein Gewerbe wurde auf vier Standorte in der Stadt reduziert.

Und wieder prescht Bayern im Corona-Krieg vor. „Wir sperren nicht das Land zu, aber wir fahren das öffentliche Leben völlig herunter,“ erläutert Krisen-Kommandant Söder (was einige seiner Amtskollegen irritiert) eine Video-Botschaft von 12.30 Uhr. Sie mutet den Bayern neue, rigorose, doch immer noch maß­volle Ausgangsbeschränkungen zu. Das heißt: Verlassen der Wohnung nur noch bei Vorliegen „triftiger Gründe“, nur alleine oder in Begleitung von Personen aus dem eigenen Haushalt und grundsätz­lich keine Besuche mehr in Kliniken, Alten- und Pflegeheimen (außer bei Sterbefällen). Die rund  5000 Münchner Gastronomiebetriebe müssen fortan ganztägig schließen, erlaubt bleibt eine Brotzeitausgabe „to go“.

Außerdem müssen weitere Betriebe ab Mitternacht zumachen, zum Beispiel Baumärkte und Fri­seure. Es drohen Bußgelder bis zu 25 000 Euro. Ich lasse mir am Abend von Meister Martin  schnell noch die Haare schneiden, so kurz wie möglich, denn ein neuer Termin ist nicht in Sicht. So wie jetzt habe ich zuletzt als Pimpf im Hitler-Staat ausgesehen. Überhaupt erinnert mich jetzt manches an jene finsteren Zeiten: die Reglementierung, die Abhängigkeit von amtlichen Anordnungen, die Angst vor dem Ungewissen. Als vor genau 75 Jahren, im März 1940, die ersten englischen Brandbomben auf München fielen, grassierte zugleich eine gefährliche Frühlingsgrippe. Bomben wie Viren wurden von der gelenkten Presse verschwiegen: nur kein Panik! Ich will aber keine falschen Vergleiche ziehen: Heute haben wir Demokratie, ausreichend zu Essen, Fernsehen,  Computer und wahrhafte Aufklärung.

An diesem Abend noch verkündet Dieter Reiter per Live-Stream, dass innerhalb der letzten 24 Stunden wiederum bei 202 Stadtbürgern das Virus entdeckt wurde. Ein zweiter Schwarzer Freitag, kein Fryday for Future mehr. Reiter, der Mitinitiator des beschränkten „Freiheitsentzugs“, spricht von einer „extrem dynamischen Entwick­lung, Söder von einer „historischen Bewährungsprobe“. Die Polizei soll kontrollieren. Schon wer­den erste Rufe nach Hilfseinsatz der Bundeswehr  laut.

Von Freiheit und Grundrechten spricht momentan nur die FDP. Immerhin bestimmt schon das   noch von der Stoiber-Regierung erlassene, 1997 in Kraft getretene bayerische Katastrophenschutzgesetz: „Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die Freiheit der Person, die Versammlungsfreiheit, die Freizügigkeit und die Unverletzlichkeit der Wohnung können auf Grund dieses Gesetzes einge­schränkt werden.“ Die Lage ist da.

 

  1. 21. März. Ein grauer, nasskalter Samstag. Trotzdem treibt es immer noch Ahnungslose, Hemmungslose und Dummköpfe in Grüppchen auf die leeren Straßen. Die Polizei meldet bis Mittag bei 60 Kontrollen bereits zehn Verstöße gegen die neuen Regeln. Einmal muss sogar Widerstand gegen die Staatsgewalt gebrochen und angezeigt werden. „Bei Unbelehrbaren verstehen wir keinen Spaß, da wird hart durchgegriffen,“ berichtet Polizeisprecher Marcus da Gloria Martin. In den meisten Fällen aber ließen sich die Leute aufklären und von der Notwendig­keit der jüngsten Einschränkungen überzeugen. Auf Sperrzonen und Passagierscheine wolle man weiterhin verzichten, das Fingerspitzengefühl der Polizistinnen und Polizisten werde wohl genügen.

Um 21.11 Uhr werden die Fallzahlen für den Samstag veröffentlicht: Bestätigt sind 164 Neuinfek­tionen. Die Gesamtzahl der Corona-Kranken hat somit erstmals die Tausender-Marke überschritten,  seit Mittwoch hat sie sich genau verdoppelt.

Inzwischen hat sich der Begriff Covid-19 (abgekürzt aus „Corona Virus Desease 2019“) allgemein durchgesetzt. Gemeint ist damit die Lungenkrankheit, die durch Infektion mit dem neuartigen, mutierten Virus vom Typ Sars-CoV-2“ ausgelöst wird.

 

  1. März. Die Stadt scheint nun völlig ausgestorben zu sein. Und erstarrt. Keine Menschenseele be­gegnet mir am Morgen auf dem Weg zum St. Anna-Platz. Vielleicht halten auch nur die klirrende Kälte und der Wind die Münchner vom durchaus noch erlauben Sonntagsspaziergang ab. Kein ein­ziges Fahrzeug weit und breit bewegt sich. Die Autodächer wurden über Nacht mit Schnee bedeckt.

Unsere große Pfarrkirche ist geöffnet, aber menschenleer. Ein paar Kerzen flackern. Ausgehängt ist ein Dekret von Reinhard Kar­dinal Marx, wonach alle öffentlichen Gottesdienste in der Erzdiözese München und Freising bis 1. April abgesagt sind. Ebenso Hauskommunion, Krankensalbung und sogar Totenmessen. Doch sollen die Kirchen für das persönliche Gebet offen stehen. Die Weihwasserbecken sind leer. Die Matthäuspassion ist „ver­schoben“. Ein Anschlag klingt tröstlich: „Wir sind da – gerade jetzt“.

Jeden Tag um 10 Uhr soll ein zentraler Gottesdienst im Internet übertragen werden unter www.erzbistum.de/coronarvirus. Außerdem wird Telefonseelsorge angeboten. Taufen sollen erlaubt sein, wenn sie „nach dem Urteil eines klugen Taufspenders in einem Privathaus geboten sind“. Geschlossen sind das Pfarrheim und die barocke Klosterkirche St. Anna, wo die Asam-Brüder und Ignaz Günther ihre großartigen Spuren hinterlassen haben.

Wie wäre es, schießt es mir durch den Kopf, in dieser Zeit der Monotonie, da doch alle Museen zu haben, einige der sonst nicht so beachteten Kunstschätze in Münchens Kirchen zu besuchen? Man könnte sich dabei auch an frühere Katastrophen erinnern, die in so manchem Gotteshaus dokumentiert sind, im alten Haidhauser Kircherl etwa zur Cholera-Epidemie von 1836 mit 2994 Toten. Oder in der Sendlinger Kirche an die „Mordweih­nacht“ von 1705 mit 1100 Toten. Oder an die Rettung von Verunglückten, wovon Votivtafeln in der Wallfahrtskapelle am Gasteig erzählen. Und in der Paulskirche könnte ich mich erinnern an  den Flugzeugabsturz im Weihnachtstrubel von 1960 mit 49 Toten, als junger Reporter berichtete ich un­ter der Schlagzeile „Hölle aus Qualm und Gestank“.

Um 10 Uhr läuten die Glocken aller katholischen Kirchen der stillgelegten Stadt. Sie rufen zum Gebet und wohl auch zum Gedenken an die bisher 21 Toten der Corona-Pandämie in Bayern. An diesem Sonntag stirbt im Klinikum Großhadern der erste Münchner, ein 56-jährtiger Mann, er hatteeine Vorerkrankung.

 

  1. März. Dass viele Bewohner der stillgelegten Landeshauptstadt das sehr schöne Wetter zu Ausflügen ins Voralpenland genutzt haben, was ja in Kleinstgruppen nicht verboten ist, passt Verantwortungsträgern am Tegernsee gar nicht. In einem Brief an Ilse Aigner, die CSU-Vorsitzende von Oberbayern, beschwert sich einer der Bürgermeister namens seiner Kollegen über volle Parkplätze und ungezügeltes Freizeitleben rundum. Die Leute sollen doch jetzt in ihren Landkreisen bleiben und Bergtouren unterlassen, zumal die Rettungskräfte „woanders gebraucht“ würden. Am Tegernsee, der mal den Spottnamen „Lago di Bonzo“ hatte, war man halt immer schon gern unter sich. Tat­sächlich warnt auch der Alpenverein, derzeit gefährliche Touren zu unternehmen. Aber Söder hält eine Ausflugssperre für ein „falsches Signal“.

Offenbar nach dem Grundsatz „gleiche Bildungschancen für alle“ werden ab Montag auch die Grundschüler mit dem Online-Programm „Schule daheim“ versorgt. Der Bayerische Rundfunk hat es gemeinsam mit dem Kultusministerium erarbeitet. Bisher haben davon nur Gymnasiasten und Realschüler profitiert.Täglich ab 9 Uhr bekommen nun alle Schüler im Freistaat über den Alpha-Kanal syste­matischen Fernunterricht. Ähnliche Formate hat der BR seit Jahrzehnten erprobt: So wurden zahllose junge Menschen durch Schul- und Bildungs-Fernsehen auf den sogenannten zweiten Bildungsweg geführt.

Das Abitur wurde jetzt auf die letzte Maiwoche verschoben, das Staatsexamen für Lehrerstudenten ganz abgesagt, die Vorbereitungen dürfen nicht vernachlässigt werden. Den Pädagogen wachsen überhaupt neue Aufgaben zu. Sie müssen ihre Schüler auf Distanz auch psychologisch betreuen, und zwar intensiver denn je. Lehrer­verbandsvorsitzende Simone Fleischmann berichtet von Kindern, die plötzlich zu wei­nen anfingen, weil sie sich Sorge um die Großeltern machten.

An diesem Dienstag ist ein zweiter Münchner an der unheimlichen Krankheit gestorben, ein 79-jähriger Patient des Schwabinger Krankenhauses, auch er hatte eine Vorerkrankung. Die Zahl der Neuinfizieren aber ist auf 65 ein wenig ge­schrumpft.

 

  1. März. Das tägliche Leben pendelt sich ein auf einem niederen Niveau ein. Eine Stadt auf Sparflamme, Leben am Limit, Life light. Im Amtsdeutsch heißt das: „Reduktion der sozialen Kontakte“. Man bleibt eben zuhause, be­schäftigt sich irgendwie, kümmert sich ums tägliche Brot. Die Menschen schleichen wie scheu aneinander vorbei, ge­hen sich aus dem Weg, damit der gebotene Abstand von 1,50 bis zwei Meter gewahrt bleibt. Manche lächeln sich zu, reden aber kaum. Im Großmarkt ein ähnliches Bild: Warten, bis Di­stanz möglich wird, Ware aus dem Regal greifen und zahlen, alles möglichst mit dünnen Handschuhen. Trotzdem bleiben die Verkäuferinnen und Verkäufer, die meisten sind anscheinend Ausländer, einer gewissen Gefahr ausgesetzt. Helden hinter der Kasse, lobt eine Zeitung.

Wir Alten aber können mit dem Wort „Helden“ wenig anfangen, wenn wir zurückdenken an die Kriegsjahre, als die Menschen, „Volksgenossen“ genannt, still und selbstverständlich ihre verdammte Pflicht taten.

Damit wir, die Risikogruppe also, nicht den in Supermärkten eventuell grassierenden Viren aus­gesetzt sind, hat OB Reiter dazu aufgerufen, Senioren eigene Einkaufszeiten zu ermöglichen. Außerdem sollen zwölf sogenannte Sozialbürgerhäuser Lebensmittel gegen telefonische Bestellung ausliefern. Mein Vietnamese drüben liefert abends sogar komplette Menues „to go“, den Preis hat er leicht angehoben. Fortan beschränken sich meine Ausgänge aufs Essen holen und Luft schnappen, wie es uns die Kanzlerin empfohlen hat. Kaum noch ein Unterschied zu Knast und Kaserne.

Allmählich kommt man sich tatsächlich etwas eingesperrt vor, wenn man so am Stück „dahoam“ hockt. Man fühlt sich ausgegrenzt oder, falls in Quarantäne, sogar stigmatisiert. In manchen Familien, die in kleinen Wohnungen gepfercht sind, scheint sich aus dem Nichtstun eine Art Feiertags-Grant zu entwickeln. Sozialhelfer befürchten, dass häusliche Gewalt zunehmen könnte.

Natürlich springen allerlei Berater in die Bresche. Beispielsweise ein Psychotherapeut, der sonst mit seinem Team die Flugangst bekämpft und jetzt 70 Special-Coaching-Kurse pro Woche anbietet, kostenfrei sogar. Die Zeitungen verstärken ihren Kampf gegen den um sich greifenden Corona-Koller mit täglichen, bisweilen etwas albernen Tipps sowie mit einem „Krisentelefon“.

„Was mich an der Krise am meisten beschäftigt, ist die Zwangsisolierung,“ schreibt mir Kollege Gerd. „Wir beugen uns allen Auflagen, die tief in unsere Privatsphäre einschneiden, weil wir keinen besseren Schutz vor der unsichtbaren, aber schrecklich erkennbaren Bedrohung sehen. Ich spreche von den Opfern, die um Atem ringend in ihren Sterbebetten liegen, von nächtlichen Lastwagenkonvois mit Corona-Leichen auf dem Weg zur Sammelstelle. Von unserem angstvollen Verkriechen in die letzte private Schutzzone, dem eigenen Heim.“

Der Mittwoch endet mit 195 neuen Fällen – und mit 137 Anzeigen der Polizei wegen Verstößen gegen die neuen Bestimmungen. Kein Anlass also für Entwarnung, noch lange nicht.

 

  1. März. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.“ Rilkes elegischer „Herbsttag“ kommt mir in den Sinn, als ich ein Grüppchen von Menschen beim Frühlings-Spaziergang an der Isar sehe: Obdachlose mit ihrem erbärmlichem „Hausrat“ suchen Schutz am angestammten Lagerplatz, dem Kiosk mit seinem ausragenden Pilzdach. Ja, wer jetzt kein Heim hat und allein ist, den trifft es besonders hart. Wo bekommen sie nun was zu essen? Wo sollen sie sich waschen? Wie sollen sie bei nächtlichen Minusgraden schlafen, ohne sich aneinander kuschelnd zu wärmen? Restaurants, auch Suppenküchen, Tafeln und sogar Notunterkünfte sind ja zu.

Vor der evangelischen Lukaskirche treffe ich den Toni aus Fürstenfeldbruck, 60 Jahre alt, zerzaust,struppig, freundlich. Den Geldschein nimmt er mit knappem Dank an, die festen Schuhe nicht, die  sind ihm zu klein. Punkt  14 Uhr wird das Tor geöffnet. Toni schiebt den Einkaufswagen mit seinem Haushalt die Treppe hoch und verschwindet im dunklen Gotteshaus. Er will sich, nach schlechter Nacht, noch ein bisschen hinlegen, sagt er. Corona fürchtet er nicht.

Bilanz des Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit an diesem Münchner Donnerstags: Ein Plus von 111 neuen Fällen – und der dritte Tote der Stadt; das Immunsystem des 99-Jährige war ebenfalls durch eine Vorerkrankung geschwächt.

 

  1. März. Nicht nur für Wohnungslose wird die Grundversorgung immer mehr zu einem praktischen Problem, sondern auch für alleinstehende Senioren, wie ich einer bin (und sechs Millionen Bundesbürger). In den viel zu engen Gängen zwischen den Regalen der kleinen Edeka-Filiale drängen sich die Leute nach wie vor ängstlich aneinander und an den immer noch ungeschützten Kassierern vorbei. In anderen Vierteln sind die Verkäuferinnen schon durch eilig gezimmerte und mit Klarsichtfolie bespannte Verschläge abgeschirmt.

„Auch die überall sichtbaren Klebestreifen mit der Eineinhalb-Meter-Abstand-Markierung werden uns womöglich in Zukunft erhalten bleiben,“ meint Gerd, mein alter Freund aus der Abendzeitung. Ihm ist außerdem aufgefallen, „dass immer wieder besonders eifrige Menschen in guter alter Blockwart-Manier ihre Mitbürger auf das Einhalten der Anstandsregel aufmerksam machen, da schwillt mir wieder der 68er-Kamm“.

Ich werde mich nach einem größeren Laden oder nach einem Lieferdienst umschauen müssen. Mit dem Nötigsten versorgt mich heute noch mein Sohn Thomas, der seine freie Zeit als Fotograf ohne Aufträge zum Sortieren und Digitalisieren uralter Negative nutzt respektive totschlägt.

„ALLES WIRD GUT. WIR BLEIBEN ZUHAUSE“ hat ein Kind auf Papier gemalt, das es mit einem Regenbogen verziert und ins Fenster gehängt hat. Unter demselben Motto – „andra tutto bene“ –  haben Corona-Internierte in italienischen Städten von Balkonen herab oder aus Fenstern heraus gesungen. Nach diesem viel gerühmten Beispiel hat nun auch im Münchner Glockenbachviertel der 28-jährige Chorleiter Kilian Unger begonnen, seine Nachbarn von Haus zu Haus zum Mitsingen oder Musizieren einzustimmen. Begonnen hat das trotzige Hofkonzert am Sonntag mit „Freude, schöner Götterfunke“; es folgte der Beatle-Song „All you need is love“.

Wieder so ein Datum, das seinen Sinn verloren hat (so es je einen hatte): Heute ist „Welttheatertag“. Münchens Theater haben wirklich Anderes zu tun als zu feiern. Alle drängen ins Virtuelle. Alle haben inzwischen für ihre Inszenierungen feste Plätze in Streaming-Kanälen oder im Fernsehen gefunden. Der Online-Veranstaltungskalender gleicht durchaus dem in der Vor-Corona-Zeit. Der Bildschirm ersetzt vorerst die Bretter, die die Welt bedeuten. Besucher braucht’s da keine.

Matthias Lilienthal zum Beispiel, der demnächst scheidende Intendant der städtischen Kammerspiele mit ihren diversen Bühnen, hat „das Internet als Überlebensmöglichkeit entdeckt, was total Spaß macht“. So will er „Young Faust“ im Netz uraufführen. Und hofft, zum Abschied noch eine 24-Stunden-Performance hinzukriegen, die Münchens Geschichte auf bestimmten Plätzen der Stadt (bei der Auswahl durfte ich mitwirken) widerspiegeln soll. Lilienthals Augsburger Kollege André Brücker indes lehnt den „Streaming-Wahn“ ab: Wenn die Theater ihre Stücke „umsonst ins Netz hauen“,  dann helfe das den Schauspielern kaum und sei obendrein urheberrechtlich fragwürdig.

Die Zuwachsrate von Corona-Kranken ist an diesem Freitag abermals angewachsen: um 158 neue Fälle, dazu 33 im Landkreis. Und die Zahl der Infizierten in Bayern hat heute die magische Marke 10 000 übersprungen. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass jetzt täglich weit über 11 000 Bayern auf SARS CoV-2 getestet werden, und das Massen-Screening soll noch ausgedehnt werden.

 

  1. März. Wieder herrliches Ausflugswetter. „Sport und Bewegungen an der frischen Luft“ sind ja ausdrücklich erlaubt, wenn auch nur allein oder im gebotenem Abstand zu Haushaltsmitgliedern. Den „Lago de Bonzo“ mit seinen scheinbar fremdenfeindlichen Bürgermeistern sollte man meiden. In den Voralpen laden indes andere Seen – noch nicht zum Bade, wohl aber zum Besuche. Innenminister Joachim Herrmann, einer der bayerischen Krisenmanager, rät jedoch dringend ab, „dass Leute zuhauf über 50 oder 100 Kilometer in die Berge fahren“. Wer etwa an einer Seepromenade oder auf einem Gipfel nicht mindestens 1,5 Meter von einem Nachbarn entfernt ist, dem drohen 150 Euro Bußgeld.

So überlegt man die alternative Möglichkeit, eine der bayerischen Kirchen zu besuchen, die der Heiligen Corona geweiht sind. Die nächstgelegene soll sich bei Sauerlach befinden, nur 22 Bahnkilometer vom Hauptbahnhof München entfernt. Aber: wie voll sind die Waggons, wird man darin die nötige Distanz wahren können? Verkehren überhaupt BOB-Züge, nachdem der Fahrplan stark ausgedünnt wurde? Ist die Kapelle im Wald zu Fuß zu erreichen? Ist sie überhaupt auf?. Gottlob ist wenigstens die Inschrift, die jene Kapelle birgt, schließlich auch im World Wide Web zu finden: „Müder Wanderer stehe still, mach bei Sankt Corona Rast. Dich im Gebet ihr fromm empfiehl, wenn Du manch‘ Kummer und Sorge hast.“ Wie aktuell alte Kirchentafeln doch sein können!

So verzichte ich halt lieber auf den Ausflug. Ich will die Frühlingssonne an diesem Wochenende einfach auf dem häuslichen Balkon genießen. Und lesen. Bei der Suche nach zeitgemäßer Lektüre stoße ich in meinen Regalen auf drei Romane. Thriller, die alle mal Furore gemacht haben und wohl auch heute noch mehr Furcht als Information vermitteln können: „Die Pest“ vom Franzosen Albert Camus, „Zentrum des Schreckens“ vom Engländer Graham Green und „Hot Zone“ vom Amerikaner Richard Preston. Dieses hat den Untertitel: „Tödliche Viren aus dem Regenwald“. Auf Seite 343 lese ich: „Sie sitzen auf Türgriffen und Telefonhörern, Büchern und Betten, Geldscheinen und Kaffeetassen, hocken auf Schuhen und Fingerspitzen, lauern auf Tieren und Pflanzen, schweben auf dem Wasser und im Wind. Zu Myriaden und Abermyriaden bevölkern sie den gesamten Globus…“ Ich schlage das schwarz gebundene Buch schnell wieder zu.

Drunten an der Isar mache ich eine weniger verstörende, wunderliche Wahrnehmung: Viel mehr Joggerinnen und Jogger als gewöhnlich traben durchs Grüne. Die Botschaft der Kanzlerin, in Bewegung zu bleiben,scheint mindestens bei jüngeren Bürgern angekommen zu sein. Sollte es mit dem verordneten Hausarrest noch schlimmer kommen, blieben noch Hantel und Heimtrainer.

Abends leuchtet aus allen Wohnungen das Licht, denn alle Leute sind zuhause. Ob wohl die Geburtenziffern zu Anfang nächsten Jahres zunehmen werden? Ich suche nach einem kleinen Lichtblick im offiziellen Tagesbericht, werde aber enttäuscht. Wieder wurden 293 Neu infizierte an diesem Samstag bestätigt. Die Gesamtzahl steigt somit auf 2080 „Fälle“. Eine Woche zuvor waren exakt halb so viele Münchner als Corona-Virus-Träger bekannt. Noch also hat die Stadt, wo  vor zwei Monaten die deutsche Misere begonnen hat, das von der Naturwissenschaftlerin Angela Merkel genannte Zehn-Tage-Ziel einer maßgebenden Halbierung der Zuwächse nicht erreicht. Und Deutschland erst recht nicht, wir stehen  jetzt auf Platz 5.

 

  1. März. Nun doch, da Sonntag ist, ein kleiner Abstecher in einen ruhigen, eigenständigen Villenvorort. An der Einfahrt nach Planegg hängt, allen Auto- und Radfahrern gut sichtbar, ein Schild am Zaun mit der Aufforderung: „Bleibt’s dahoam.“ Soll wohl heißen: Ihr Münchner, verschont uns bitte mit Euren Viren! Tegernsee macht Schule und rückt näher.

 

  1. März. Am Wochenende wurden 176 und am gestrigen Montag weitere 254 neue Infektionen bestätigt, womit die 2000 er-Grenze in der Stadt überschritten wird. Und zu allem Unglück sind noch einmal zwei Münchner, beide über 66 Jahre alt, der grausamen Seuche erlegen. Die hat München jetzt härter im Griff als alle anderen deutschen Städte.

Die Menschen aber zeigen ein anderes Gesicht. „Seid nett zueinander,“ lautete einmal eine in Hamburg ausgegebene Parole. Wirklich, man ist merklich „nett“ zueinander, ich nehme das vor allem bei den Frauen in meiner Nachbarschaft wahr. Unaufgefordert schenkt mir die Chefin meiner Wäscherei eine hoffentlich funktionierende Mundschutzmaske, eine mit Luftfilter und Ausbuchtung für die Nase.

Bei meinen Spaziergängen und Einkäufen lege ich das Ding an. Und merke, dass ich weit und breit noch fast der Einzige bin , der derart vermummt ist. Was vielleicht daran liegt, dass diese Masken noch nicht leicht zu haben sind. Etliche Ärzte sollen deshalb ihre Praxis geschlossen haben und Münchner Krankenhäuser mussten sich Tausende von Atemschutzmasken besorgen. Aus China.

Zweitens fällt mir auf, dass mich manche Passanten schräg, erschreckt, fast furchtsam, angaffen, wie ein Gespenst. Was vielleicht an mangelhafter Aufklärung liegt. Daran nämlich, dass man meint, nur Infizierte würden oder müssten ihr Gesicht dergestalt einhüllen. Tatsächlich hat ja selbst die WHO das Tragen von Schutzmasken nur für solche Fälle empfohlen. Österreich jedoch hat das bereits für Einkäufe zur Pflicht gemacht. Auch Söder und Regierungssprecher Seibert erwägen eine Maskenpflicht. Ein Wort, das früher nur im Fasching gebraucht wurde.

Recht nett ist auch die Idee eines Nachbarn vom „Osterkorb“. Bei mehreren Läden  kann jedermann einen Gutschein erwerben für Geschenkkörbe, die dem Personal in Münchens Krankenhäuserm und Pflegeheimen als kleines Dankeschön überreicht werden sollen. Der teure Schokoladenshop in der Triftstraße – sie erinnert an die Versorgung der Stadt durch hier anlandende Flöße -, ging voran. A bisserl a G’schäft geht immer.

Vielleicht sollte man aber erst mal die hart geforderten Helfer  ausreichend mit Schutzartikeln ausrüsten. Für solch lebenswichtige Dinge sollen mancherorts schon Wucherpreise verlangt werden. Überhaupt scheint sich außer dem bösem Virus eine neue, gern kolportierte Gutherzigkeit zu verbreiten. „Wir sind für Sie da“ oder „Jetzt zusammenstehen!“ – dergleichen Parolen geben allerlei Unternehmen, Geld- und Kredithäuser vor allem, in Anzeigen kund. Mich erinnert das wieder ein bisschen an meine Pimpf-Zeit, als mich die Oberen mit der Sammelbüchse  auf die Straße geschickt hatten. Parole „Keiner soll hungern und frieren.“ Damals sprach man nicht von Solidarität, sondern von Volksgemeinschaft.

Die Krankheitskurve ist an diesem Tag weiter angestiegen: auf 198 neue Fälle.

 

  1. April. Seltsam, wie die aktuelle Politik von der Krankheit überlagert wird. Corona von froh bis spät, Corona hier, Corona dort. Die Kanzlerfrage, gestern noch Schlagzeile? Vergessen. Die Aktienkurse? Unwichtig. Sogar die durchaus spannenden Ergebnisse der bayerischen Kommunalwahlen sind in den Hintergrund gerückt. Klar, dass die populären Macher der Großparteien und ihr Anhang begünstigt und die populistischen Miesmacher abgebremst wurden.

Dies ist die Stunde der leistungs- und entscheidungsstarken Politiker. Sie alle verdienen Hochachtung und Dank für den unermüdlichen Einsatz an der Corona-Front. Wie er das  schaffe, wird Markus Söder am Ende des Tages vom BR-Chefredakteur gefragt. Seine Bedingungen: Wenig Schlaf, harte Arbeit und fester Glaube, „dass wir das am Ende überstehen werden“. Im Nachbarland Hessen hat sich ein Minister das Leben genommen; er sei von Sorgen um die Zukunft „erdrückt“ worden, sagt sein Ministerpräsident mit Grabesstimme. Dies ist nicht die Stunde für schwache Nerven.

Geduld, Tapferkeit, Empathie aber auch im Volk, bei Groß und Klein. „Ich arbeite an Designprojekten und mache viel Sport, ansonsten gehen mir soziale Kontakte ab,“ schreibt auf einer bemalen Karte meine Enkeltochter Tania, die auf ihren Dienst bei der Lufthansa verzichten muss und ihren Eltern hilft. Aus Mexiko berichtet Nichte Elsa, die ihre Arbeit in der Schweizer Botschaft abbrechen muste, dass sie sich per Home-Office um 175 gestrandete Schweizer kümmern müsse. Elsa stellt fest, dass die Krise „das Beste und das Schlimmste in den Menschen sichtbar macht“.

 

  1. April. Was tun „dahoam“, wenn man nicht zum Home-Office verbannt ist? Christian Ude will endlich die Bücher lesen, „die man das Jahr über geschenkt bekam“. Zeit der Literatur also? Eine Autorin liest ihren Fans ihre Gedichte am Telefon vor. Andere Schriftsteller nutzen Streaming-Kanäle als Transportwege. Buchhändler empfehlen ihre Lieblingsschmöker per Print oder Online-Plattform, notfalls bringen sie den Kunden die Bestellungen persönlich ins Haus. Chefredakteur Kurt Kister von der Süddeutschen berichtet heute aus seinem „Heimatbüro“ von einem Sinologen in Niederbayern, der ihm fast jeden Tag selbst übersetzte chinesische Gedichte mit Bezug zur Gegenwart mailt.

Es sieht tatsächlich danach aus, dass die Literatur ausgerechnet in dieser Zeit einer „geschlossenen Gesellschaft“ (Sartre) mit Hilfe neuer Medien  neue Dimensionen aufspürt.An einen langfristigen Gewinn glaube ich allerdings nicht. Abgesehen davon, dass die Vorstellung auch meines neuen Buches („Münchner Meilensteine“) letzten Freitag dem Virus zum Opfer gefallen ist, erscheinen mir alle diese „Streamings“ (Strömungen) für die Hersteller und die Händler von Büchern zunächst nur als Not- oder Auswege, bestenfalls als Experimentierfelder.

Die Lage sei gerade für die Kulturschaffenden extrem bedrohlich,, eröffnet mir ein Verlagsleiter aus dem „temporären Exil“. Von den Großhändlern kommen ganze Paletten retour. Derzeit unverkäuflich. Verkaufen lässt sich fast nur noch über den Superkonzern Amazon, den mein Verleger „Krisengewinnler“ nennt. Jener konzentriert seine Buch-Lieferungen aber erst mal auf Güter des täglichen Bedarfs.  Ein anderer Verlag nennt mr einen Absatzrückgang von aktuell 80 Prozent. Ganz schlechte Aussichten haben für ihn Reiseführer und „Titel zu Ferndestinationen“. Ein Kleinverleger fragt mich schier verzweifelt: „Wer könnte in diesen Tagen schon von sich behaupten, diese ‚biblische Plage‘ und ihre Konsequenzen annähernd zu begreifen?“ Tenor all der Mail-Mitteilungen: Buchhonorare sind bis auf Weiteres nicht zu erwarten.

Gut und witzig klingt indes die heutige Meldung, der PEN-Club verlange die sofortige Wiederöffnung der Buchhandlungen. Begründung; „Der Mensch lebt nicht von Brot und Klopapier allein, er braucht auch geistige Nahrung.“

Gut, dass die periodischen Medien  keinerlei Einschränkung erkennen lassen. Zeitungen, Radio und Fernsehen erleben geradezu eine Hochkonjunktur, denn der Nachrichtenstoff lässt wahrlich nicht nach, das Interesse der Leser, Hörer und Zuschauer auch nicht.

Allerdings gibt es nur ein einziges Thema. Dieses wird am späten Nachmittag als Kurzmeldung aus dem Gesundheitsamt zusammengefasst: Binnen 24 Stunden 173  Neuinfizierte in München unf 2002 in Bayern, das nunmehr unter den Bundesländern meisten Korona-Fälle hat, von rund 80 000 ziemlich genau ein Viertel

 

  1. April. Ein sonniges Wochenende steht bevor. Wir wollen es wieder durch erlaubte Spaziergänge nutzen. Erste Erfaurungen zeigten: der Englische Garten, die Stadtparks, die Weserpromenaden – überall „drangt sich ein buntes Gewimmel hervor“, wie auch Meister Faust bei seinem Osterspaziergang bemerkte. Deshalb lenkt Alwine unsere Schritte in den totenstillen Waldfriedhof. Wir stoßen auf das Grab von Frank Wedekind. Bei seiner Bestattung im Kriegsjahr 1918 – als die Spanische Grippe über München herfiel – hatte unser Skandaldichter letztmals einen Skandal verursacht: Im Beisein berühmter Trauergäste wie die Mann-Brüder und der Jungdichter Brecht wollte sich der junge Skandaldichter Lautensack ins offene Grab stürtzen. Es gibt noch mehr Geschichten aus dem Waldfriedhof.

Am Sonntag wollen wir die Spurensuche im Totenreich fortsetzen. Im leeren und pünktlichen Bus fahren wir zum Friedhof von Planegg und finden das Grab vom Karl Valentin, das gelbe Frühlingsblumen bedecken. Im Kriegsjahr 1942 – als eine andere Plage, der Bombenhagel, die Stadt drangsalierte – hatte unser notorischer Schwarzseher vom Herrgott gefordert: „Die Welt, die Du geschaffen hast, die sollst Du auch regieren! Wenn Du die Menschheit nicht ersäufst, so lass sie halt erfrieren.“ Das Eis am Kiosk in der Bahnhofstraße bringt uns auf angenehmere Gedanken. Das macht cool, in der Warteschlange unter brennender Sonne.

Am Samstag ist die Zahl der Neuzugänge auf 145 gefallen, um am Sonntag wieder auf 195 Fälle anzusteigen.

 

  1. April. Heute würden die Osterferien beginnen, Allerdings sind die Schulen, Kindergärten und Kitas schon seit 16. Juni geschlossen, nachdem Bayern diesbezüglich vorgeprescht war. Unterrichtet wurde trotzdem, indem die Lehrer den vorgeschriebenen Stoff per E-Mail oder Whatsap vermittelten und die Kinder mit ihnen ohne „social contacting“ arbeiteten. Auch hierfür haben neue Anglizismen wie „Homeschooling“ oder „Homelearning“ den deutschen Sprachschatz angereichert. Dabei handelt es sich doch nur um das gute alte „Hausaufgaben-Machen“.

Auch in meiner Schulzeit war der Unterricht der Lehranstalt oft ausgefallen. Zunächst schon deshalb, weil ein Schulhaus nach der andern in Trümmer gefallen war. So entwickelte sich eine regelrechte Wanderschule. Als der Krieg dann – genau 75 Jahre ist es her! – zu Ende ging, ging auch der Schulbesuch zu Ende.  Wir wurden quasi zu Zwangsarbeitern „umgeschult“, nur so gab es Lebensmittelmarken. Den Sommer 1945 „genoss“ ich in einer Münchner Marmeladenfabrik und auf zwei oberbayerischen Bauernhöfen. Erst im September waren diese Notferien beendet und ich durfte mich im Gymnasium, wie die Oberrealschulen nun hießen, aufs Abitur vorbereiten.

Im Oktober 1945 meldete das Stadtjugendamt, dass  etwa 14  000 Kinder in München der Fürsorge bedürfen. Viele haben durch den Krieg beide Eltern verloren, andere konnten nicht zurück in ihre Heimat. Viele hatten jahrelang keinen Schulunterricht. Zahllose Kinder vagabundierten seit dem Frühjahr auf den Landstraßen, lebten von Betteln und Diebstahl. Damals.

 

  1. April. München hat jetzt 16 Corona-Tote. Täglich und genau melden alle Medien die Neuinfizierten sowie die Gesamtzahl der erkannten Virusträger, der Genesenen und der Toten, manchmal auch die der Getesteten und der im Krankenhaus intensiv betreuten Patienten. Jetzt aber möchte ich diese Statistik einstellen, denn die Zahlen werden zum Zahlengewirr. Zu viele Faktoren: Von mehreren Instituten für unterschiedliche Zeitspannen auf Grund unterschiedlicher Kriterien aus München, Bayern, Deutschland und der Welt werden die Meldungen zusammengetragen, hochgerechnet und durch farbige Kurven markiert.

Allmählich  wird das medizinische Problem geradezu ein mathematisches Problem. Eine Rechenaufgabe mit vielen Unbekannten ist sie jedenfalls für den Laien. Der kann wenig anfangen mit diesen neuen Werten, etwa der „Basisreproduktionszahl“: Wie viele andere Menschen steckt ein Virusbefallener an? Auch erfährt man täglich den Zeitraum, in dem sich die neu bestätigten Infekte da und dort verdoppeln, was letztlich über die Kontaktsperre entscheiden soll. Mich erinnert das an die ominöse „Halbwertszeit“, die bei Atombombentests und Reaktorkatastrophen für radioaktive Luftpartikel galt. Bei Cäsium wurden 30 Jahre errechnet.

Natürlich interessiert nicht die Statistik, sondern der menschliche Faktor. Vorhin rief mich mein alter Freund Hans N. aus dem Seniorenheim an. Er fühle sich gut versorgt und lanweile sich kein bisschen, versichert er. Nur dürfen ihn halt seine Kinder nicht mehr besuchen. Und wenn ihm die Apotheke seine Medikamente bringt oder wenn er einen Handwerker baucht, muss er beim Klingeln erst eine Pflegerin rufen, die dann mit behandschuht die Tür öffnet. Als Reisejournalist war Hans einst in der ganzen großen Welt zuhause.

 

  1. April. Beim Überlesen der Lokalseiten in den Zeitungen irritieren neuerdings nicht nur die wechselnden, meist wachsenden und recht unterschiedlichen Fallzahlen, sondern auch die polizeilichen „Maßnahmen“, die dagegen ergriffen werden. Offenbar werden vom Polizeipräsidium und vom Innenministerium fast stündlich neue Richtlinien ausgegeben, die sich in Details heftig unterscheiden und teilweise sogar widersprechen.

Die uniformierten Kontrolleure werden daher von schlecht informierter Spaziergängern laufend befragt: Darf ich jetzt eigentlich auf einer Parkbank ausruhen und wie lange und mit wie vielen Begleitern? Darf ich auf der Wiese liegen oder dort gar die Brotzeit auspacken, die ja wohl zum „täglichen Bedarf“ zählt? Darf ich einfach nur eine Weile stehen oder muss ich ohne Pause gehen? Die Hauptfrage lautet: „Was bitte sind triftige Gründe?“

Nichts Gewisses weiß man nicht, nicht mal die Polizei. Deren Reaktionen sind so unterschiedlich wie die Verlautbarungen. Meist wird man freundlich belehrt, mal wird hart „durchgegriffen“, manchmal auch kassiert. Da kann man leicht den Eindruck gewinnen, dass sicherheitspolizeilich eine gewisse Willkür obwaltet. Schon hagelt es böse Leserbriefe von Leuten, die an die DDR erinnern, oder gar an die Nazi-Zeit, als sicherheitspolizeilich jegliches „Rasen betreten verboten“ war.

Meine Begleiterin aber äußert aus anderthalb Meter Entfernung durchaus Verständnis für die ungeklärte Zwangslage: „Lieber a bisserl z’vui aufpassen als z’wenig.“ Jedenfalls sollte das für jenen Zeitgenossen gelten, der trotz mehrmaliger Ermahnung und vorläufiger Festnahme immer wieder seine sieben Sachen im Englischen Garten ausbreitete, weil es ihm halt um die „Freiheit“ geht.

Nebeneffekt: Die Aufmerksamkeit des Publikums hat sich ein wenig von den Patientenzahlen auf die öffentlichen  Parks verlagert, von den Betten auf die Bänke.

 

  1. April. Vor 75 Jahren wurde der Theologe Dietrich Bonhoeffer im KZ Flossenbürg ermordet. Die Evangelische Jugend Bayerns hat eine ungewöhnliche Gedenkfeier organisiert: Jugendliche in ganz Europa haben dieses starke Gebet hochgeladen, das der Todgeweihte in der Zelle geschrieben hat: VON GUTEN MÄCHTEN WUNDERBAR GEBORGEN; ERWARTEN WIR GETROST; WAS KOMMEN MAG. Heute soll das Lied gemeinsam, vielstimmig und mehrsprachig gesungen, gesprochen oder musiziert und über die sozialen Medien gesendet werden. Korona schafft ganz neue Formen von Performance, von Kulturvermittlung.

Wenn einem nach drei Wochen „Hausarrest“ die Decke des Wohnzimmers auf den Kopf zu fallen droht, dann bleibt nur ein Fluchtweg: Hinaus ins Freie. Open air erwartet uns ja immer noch so viel  Schönes, von dem die Dichter künden: Vogelgezwitscher, linde Lüfte,, blauer Himmel, Frühlings grün. Und weil Karfreitag bevorsteht, zieht es uns aus grauer Städte Mauern noch einmal zu einem Friedhof, dem in Penzberg. Auch hier ist zu erinnern an ein 75 Jahre zurück liegendes Ereignis – an das furchtbare Ende einer politischen Seuche.

Am 28. April 1945, zwei Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner in München und im südlichen Bayern, wurden 16 Penzberger Männer und Frauen, darunter eine Schwangere, von Männern der Wehrmacht und des „Volkssturms“ auf Befehl erschossen oder erhängt, weil sie ihr Bergwerk vor der Sprengung retten wollten und Nazi-Bonzen inhaftiert hatten. Die Gräber sind unter einer Hecke aufgereiht, gegenüber eine Steintafel mit der Inschrift: VERWEILE IN GEDENKEN VOR UNSEREM GRABE UND KUENDE DEN DEINEN WIE WIR STARBEN IN TREUE ZUR HEIMAT.

Kreuz und quer durch die oberbayerische Heimat fahren wir zurück nach München. Alle Züge und Busse verkehren pünktlich, in den Waggons sitzen höchstens vier Fahrgäste im gebotenen Abstand voneinander. Keine Kontrolle, keine Frage nach  dem Her oder hin, freundliche Auskünfte, Ansteckungsgefahr gleich null. Corona scheint weit entfernt. Ein Hoch auf den Öffentlichen Personennahverkehr. „Wenn es in der übrigen Welt drunter und drüber geht, dann bleiben Euch in Deutschland immer noch Ordnung und Fleiß und deshalb werdet Ihr bestimmt besser als andere aus dem Schlamassel rauskommen,“ tröstet mich meine Schwester in ihrem Ostergruß aus Mexiko.

 

  1. April. Zu Ostern wage ich einen Blick in die mögliche Zukunft. Wenn das alles vorbei ist – was dann? Die schon lange kursierende Standardfrage dürfte zum Fest der Auferstehung das Thema zahlreicher gedruckter Leitartikel und virtueller Predigten sein, es wird wohl auch familiäre Kaffeetische und soziale Netzwerke beherrschen.

Ja, was wird sein „nach Corona“?. Bisherige Spekulationen, die sich auf Hochrechnungen, Erfahrungsberichte und Analysen berufen, bewegen sich zwischen düsterem Fatalismus. Geduldsübungen und schierem Optimismus. Die übergreifende Antwort lautet: Alles wird anders sein, wirklich alles: Idas Individuum, die Politik, die Gesellschaft,. Urbi et Orbi. Ein neues Zeitalter sei angebrochen, heißt es emphatisch.

Von all den Visionen gefällt mir eine besonders. Der Zukunftsforscher Matthias Horx sagt ein Zurück zum ein­fachen Leben voraus, welches ohnehin längst fällig wäre. Alte Kulturtechniken sowie das Handwerk würden eine Renaissance erleben. Man werde wieder von Mensch zu Mensch kommunizieren. Aus der körperlichen Di­stanz werde eine neue Nähe –  was ja eigentlich ein Paradox ist. „Die Welt wirkt wieder jung und frisch und wir sind plötzlich voller Taten­drang.“ So weit die Horx-Hymne. Das wäre dann eine echte Kulturrevolution, es wäre die Ansage einer neuen Gesellschaft, wie sie Philosophen und Ideologen seit Urzeiten erträumen.

Sollte die Causa Sars Covid-19 wirklich ein derart zündender Götterfunke sein? Meine vorläufige Antwort: „Nix G’wiß woas ma net.“. Oder, um es im bayerisch-chinesichen Mix eines bekannten Münchner Spielers und Denkers auszudrücken: „Schaun ma moi.“

Für mich ist die Oster-Bilanz jedenfalls ein Anlass, zur Kurzarbeit überzugehen – wie vier Millionen deutsche Mitbürger. 2,7 Milliarden arbeitende Menschen auf diesem Globus sollen laut Internationaler Arbeitsagentur vom 8. April von den Corona-Maßnahmen betroffen sein. Mein Tagebuch soll nun nur noch sporadisch fortgeführt werden.

  1. April. Offiziell ist es in Bayern noch nicht mit Bußgeld bewehrte Bürgerpflicht wie im zweiten deutschen Freistaat, sondern nur ein regierungsamtliches „Gebot“, also eine dringende Empfehlung. Jedenfalls bewegen sich jetzt in München immer mehr Menschen mit Masken. Dabei sind selbst die einfacheren Modelle, in Apotheken zum Beispiel, kaum unter 19.90 Euro zu haben. Obendrein scheint der Massenbedarf trotz der Importe und gern kolportierter Firmengeschenke noch längst nicht gedeckt zu sein. Noch sind Masken Mangelware.

Darum gehen kreative Münchner, Frauen zumal, selber ans Werk. Aus Kleiderstoffen, Schals, ja sogar aus Schlüpfern schneidern sie allerlei Mundnasenschutztücher. Viele sind nicht weiß wie Windeln, sondern unzeitgemäß bunt. Manche Damen haben sie ganz ihrer Garderobe angepasst. Und manche Männer sehen aus wie Seeräuber oder, mit schwarzem Gesichtsvorhang, wie gefährliche Wüstenkrieger. Ein Trachtengeschäft ließ die Konterfeis des Märchenkönigs Ludwig, der Märchenkaiserin Sisi und des Macherkönigs Markus auf weiß-blau kariertes Tuch drucken.

Ob  alle diese Leute wissen, dass man mit derartigen Modellen Marke  „Community“ in der Regel zwar andere Leute vor den teuflischen Teilchen schützen kann, kaum aber sich selbst. Dieses leisten angeblich nur höherwertige Ausführungen und natürlich der für das medizinische Personal gefertigte Nasen-Mund-Schutz Marke FFP, der keinerlei Viren durchlassen soll. Egal, Masken sind Mode geworden. Und diesbezüglich marschiert München allemal in der Avantgarde.

Die Maskerade hat allerdings einen dunklen Hintergrund. Nach jüngstem Stand – um doch noch einmal auf die  Zahlen zurückzukommen – lebt jeder Vierte der 142 180  bisher in Deutschland bekannten Corona-Infizierten in Bayern – entweder im Krankenhaus oder in Quarantäne oder gilt als genesen. Noch höher ist ein anderer Anteil: Bayern betrauert jetzt nicht weniger als 1271 von bisher 4396 Toten in Deutschland.

Warum diese Vorreiterrolle? In Bayern, das ja den vermutlichen Seucheherden Tirols benachbart ist, war vor drei Monaten (24. Januar) der erste Deutsche positiv getestet worden. Hier auch war vor vier Wochen (20. März) erstmals – bevor die übrige Republik nachzog –  „das öffentliche Leben runtergefahren“ worden, wie sich Ministerpräsident Söder deutlich ausgedrückt hatte.

Noch düsterer wird das Bild, wenn man in der Süddeutschen Zeitung eine erschütternde Reportage liest. Aus dem Krankenhaus des – wegen der nahen Tirol-Grenze besonders betroffenen – Landkreises Rosenheim wird da  berichtet von Ärzten, Schwestern und Pflegern, die Unmenschliches leisten müssen, und von Corona-Patienten, die dennoch qualvoll sterben.

Mit wachsender Ungeduld erwartet man nun allseits den nächsten Montag. Dann will auch Bayern die angespannten Zügel wieder ein wenig – nur nicht zu viel l- lockern. Dass uns dann – wie Söder angekündigt hat – ebenfalls das Tragen einer Maske in Geschäften, Bahnen  und Bussen verordnet wird wie eine bittere Arznei, kann uns nun nicht mehr erschüttern. Am gestrigen Sonntag habe ich mir aus dem Netz einen Bing-Crosby-Song geholt, der mich in der Besatzungszeit sehr begeistert hatte: „Don’t fence me in“ – Sperrt mich nicht ein.

Viel, viel mehr schmerzt ausnahmslos alle das von Söder und Reiter sichtlich wehmütig verkündete Aus für das Münchner Weltsymbol, welches Wiesn heißt und weit mehr ist als eine große Gaudi. Zwar haben Seuchen und Kriege dieses Oktoberfest schon mehrmals verhindert, jetzt aber hatten viele Bürger und Betroffene bis heute auf ein Wunder gehofft: dass sie die ganze Misere, den Frust die Angst der letzten fünf Monate auf dem größten Volksfest der Welt doch noch „obischwoam“ können, dass sie neuen Lebensmut feiern können wie einst die tanzenden Schäffler nach der Pest.

 

  1. April. Haidhausen war von jeher das Stadtviertel mit den vielen kleinen Häusern, kleinen Leuten und kleinen Läden. Erstere, die von Krieg und Wiederaufbau übrig gebliebenen Herbergen, wirken jetzt, da keine Autos und kaum Menschen in Sicht sind, wirklich wie Kulissen der Vergangenheit. Letztere, die seit heute wieder geöffneten Läden, offenbaren das, was man neuerdings „neue Normalität“ nennt.

Fortan wird es also normal sein, vor Geschäften zu warten, bis man  – natürlich nur mit Mundnasenschutz – eingelassen wird. Denn auf einer Grundfläche 20 Quadratmetern darf sich jeweils nur ein Kunde aufhalten. Dem Geschäftsinhaber drohen bis zu 5000 Euro Bußgeld, wenn er nicht auf die entsprechenden Distanzen achtet. Und der Kunde soll 150  Euro zahlen, wenn er in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht wenigstens einen Schal vors Gesicht gebunden hat. Das kann ja noch kompliziert werden.

Friederike Wagner vom „Buchpalast“ in  der  Kirchenstraße  ist jedenfalls heilfroh, dass sie ihre Bücher nun nicht mehr selbst austragen muss. Sechseinhalb Wochen lang hat sie bestellte Titel bis zu ihren Kunden gebracht und an der Haustür geklingelt, wie telefonisch oder per Mail vereinbart. Was für Bücher waren denn gefragt? „Die einen wollten Corona durch Unterhaltung verdrä#ngen, aber viele verlangten extra einschlägige Literatur,“ sagt die  Buchhändlerin. „Die Pest“ von Albert Camus sei derzeit vergriffen. Auf die beliebten Lesungen muss der  „Buchpalast“ – ein ironisch übertriebener Firmenname –   bis auf weiteres verzichten.

Geschlossen bleibt in der Kirchenstraße das nicht weniger beliebte Haidhausen Museum, während der Friedhof ein Stück weiter oben besucht werden darf. Gleich am Eingang, umwuchert von Efeu, zwei Gedenksteine für die 3246 Toten der  beiden Cholera-Wellen, die  vor allem diesen Vorort im 19. Jahrhundert heimgesucht hatten, und noch ein drittes Mahnmal mit einer Inschrift von 1984: „Vor Seuchen, Krieg und Katastrophen, vor der Zerstörung der Umwelt, vor Unglaube und geistiger Verwirrung bewahre uns oh Herr.“

Auch mein Friseur Martin darf noch nicht wieder aufmachen. Er mag auch gar nicht. „Ich arbeite nicht. Ich renoviere. Ich habe Respekt,“ hat er trotzig an die Tür geschrieben. Daneben hängen Vorschriften, wie sie für die im Mai erwartete Wiedereröffnung gelten sollen: Kunden und Friseure nur mit Maske. Rasieren, Wimpernfärben und Bartpflege vorerst nicht erlaubt. Markierungen für die „einzelnen Bewegungsräume“. Keine Zeitungen. Desinfizierung nach jedem Besuch. Der Hair Stylist vis-à-vis scheint indes mit den Auflagen klar zu kommen. „Don’t panic,“ plakatiert er, und „Modelle sucht er auch.

Beim Bezirksausschuss Haidhausen-Au hängt noch die Einladung zur nie stattgefundenen Bürgerversammlung aus. Dabei wäre es eher um Lappalien gegangen wie um die Ampelregelung und die Anschaffung einer Schaufel für die – seit sechs Wochen geschlossene – Kita. Auch um die Gastronmie im Viertel hätten sich die BA-Mitglieder gekümmert, zum Beispiel um eine Sperrzeitverlängerung und die Erweiterung einer Freischankfläche. Die benachbarte Escobar bittet die – nicht mehr vorhandenen Gäste – immer noch, „nach 23 Uhr nicht mehr so laut zu sein.“ Probleme, die von einem größeren Problem verdrängt wurden.

Ruhe herrscht in den Geschäfts- und Aufenthaltsräumen der Straßenzeitung  BISS. Die letzte Ausgabe, die den Rassismus aufs Korn nahm, wird nicht mehr verkauft. Und die Trauerfeier für einen Verkäufer wurde abgesagt. „Aber alle unsere Leute sind stabil, sie bekommen ihr kleines Gehalt weiter,“ sagt Geschäftsführerin Karin Lohr draußen auf der unbelebten Straße. Und all die anderen „Bürger in sozialen Schwierigkeiten“ (abgekürzt: BISS), die Hunderte von Obdachlosen in München? „Denen geht’s schlecht.“

Neue Normalität auch am Wiener Platz. Alle Kioske nach wie vor geschlossen, es sind ja keine kleinen Geschäfte, sondern gastronomische Betriebe. Doch der Hofbräukeller hat sein eisernes Tor geöffnet, obwohl im Biergarten sämtliche  Tische und Stühle weggeräumt sind. Mehr als ein halbes Jahrhundert verbindet mich mit dieset Bierburg. 1944 hatten Militärärzte uns Oberschüler hier auf Kriegstauglichkeit gemustert. Bald nach Kriegsende hatten im selben noch intakten Festsaal die US-Besatzer erste Popkonzerte für die Münchner Jugend arrangiert. Das  war uns wie ein letzter Akt der Befreiung nach langer Knebelung erschienen.

Dann saß ich dort viele Sommer lang mit meinen Spezln unter den Kastanien, wir amüsierten uns über das alte Weiberl mit dem Brotzeitkörberl und dem immer gleichen Sprücherl: „Frische Brezen, scheener Herr.“ Tief unten im Keller lockte bis in jüngste Zeit hinein ein Tanzlokal mit exotischem Namen und nostalgischen Melodien, und noch ein Stockwerk tiefer spielte die beste Karl-Valentin-Truppe Bayerns den Ritter Unkenstein und andere Stückerl in köstlicher Neufassung.

Was wird – außer der Erinnerung –  von alledem bleiben? Friedrich Steinberg, der Wirt, plant längst für eine vielleicht doch noch bald mögliche Saison. Unverändert guter Service bei strikter Hygiene, Distanz und personeller Verknappung – das soll die Geschäftspolitik bestimmen. Vom derzeitigen Stamm, 95 Mitarbeiter, würde wahrscheinlich ein Drittel „wegbrechen“ und von den 800 Sitzplätzen im Biergarten fast die Hälfte, kalkuliert Steinberg. Immerhin hat die Brauerei, das staatliche Hofbräu, großzügig von Fest- auf Umsatzpacht umgestellt.Dabei verkauft HB derzeit 40 Prozent weniger Bier auf dem deutschen Markt und in anderen Ländern fast gar nichts mehr.

Um wenigstens seine Stammgäste zu halten, lässt Pächter Friedrich Steinberg an den offenen Theken jeden Mittag zehn verschiedene Gerichte ausgeben. Darunter natürlich auch jenes Schmankerl, das sein Großvater, der „Hendlkönig“ Friedrich Jahn, einst der halben Welt schmackhaft gemacht hatte. Schön und gut, aber wo essen? Auf dem Betriebsgelände darf man sich nicht aufhalten, Bier gibt’s sowieso nicht dazu. Und  auf dem Wiener Platz sind die Bänke schnell besetzt. So kauf ich mir statt des Brathendls lieber beim „Metzgerkönig“ Murr eine Büchse mit Saurem Lüngerl, das ich mir zuhause warm machen werde.

 

  1. Mai. „Die Wirtschaft wird ungeduldig“ titelt heute die Süddeutsche Zeitung. Die Ungeduld erfasst aber nicht nur die nach wie vor einflussreichen Verbände von Handel und Industrie, die hart betroffenen Gewerbetreibenden von den kleinen Kneipiers bis zu den Bossen der großen Konzerne. Ungeduldig, ja unruhig werden am Beginn des zweiten Monats nach den ersten Hiobsbotschaften auch Teile des bis dato folgsamen Bürgertums. Immer häufiger meldet die Münchner Polizei seit dem 1. Mai „stationäre Veranstaltungen“, wie sie jetzt das unangemeldete, unerwünschte Zusammenrotten von Bürgern ein bisschen verharmlosend bezeichnet.

Erst sind es ein paar Gesinnungsfreunde, die sich per Netz oder Telefon zu Kundgebungen verabreden. Neugier vergrößert dann den Kreis. So kamen vor dem Nationaltheater immerhin 320 Münchner zusammen, um gegen die „Aufhebung von Grundrechten“ zu protestieren. Offenbar waren auch Pegida-Anhänger darunter, ihr Schlachtruf „Wir sind das Volk“ deutete darauf hin. Vor dem Rathaus versammelten sich etwa 200 Menschen. Hier hatten Impfgegner das Wort und man hörte allerlei Verschwörungstheorien über „geheime Kräfte“, die das Virus ins Abendland eingeschleppt haben sollen wie vor Kurzem noch die Flüchtlinge. Ähnliche, organisierte oder spontane Pseudo-Demonstrationen gab es auf anderen repräsentativen Plätzen der Landeshauptstadt. Dort aber überwogen eher diffuse Ängste vor einer dauerhaften Stornierung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit.

In der Regel begnügt sich die Polizei zunächst damit, die versammelten Menschen zu informieren und auf die Abstandsregeln hinzuweisen. In einigen Fällen kam es aber auch zu Anzeigen wegen Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz. Überhaupt scheinen viele Ordnungshüter über die ihnen zugewachsene Rolle der Spaßverderber nicht recht glücklich zu sein, wenngleich sie nicht mehr gegen Buchleser auf Bänken einschreiten müssen. Peter Schall, Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, äußerte sich jedenfalls kritisch über die anhaltend strikten Kontaktbeschränkungen; er hält sogar eine gewisse Öffnung der Biergärten für machbar und vertretbar.

Nach weiterer, allerdings nur geringer Lockerung der rigorosen Einschränkungen zu Wochenbeginn – sie betreffen vor allem den Kirchgang, den Sport, Versammlungen und Kinderbetreuung – setze ich meinen Erkundungsgang im Münchner Osten fort und komme zum Klinikum rechts der Isar, der Technischen Universität München – so der offizielle Name mit dem etwas rätselhaften Logo MRI. Auch hier gilt strenges Besuchsverbot, Notfälle und dringende Operationen natürlich ausgenommen. Zur Zeit werden 60 Covid-19-Patienten stationär, teilweise intensiv versorgt.

Mehrere wichtige Studien zur Erforschung und Eindämmung der Pandemie haben soeben im Klinikum rechts der Isar begonnen. Die 1834 gegründete „Haidhauser Armen- und Krankenanstalt“ hat sich längst nicht nur zu einer großen Krankenstadt entwickelt, sondern auch zu einem international beachteten Forschungszentrum. Immer wieder sind deren Ärzte in neue Bereiche der Medizin vorgestoßen. Bei namhaften Chirurgen lag ich dort selbst unter dem Messer, meist nach Ski-Unfällen, einmal nach einem Gleitschirm-Absturz und noch 2019 nach zwei besonders bösen Unfällen (Fahrrad und Kajak).

Einige meiner Operateure spielten auch in Politik und Gesellschaft eine Rolle. Dr. Thomas Zimmermann, der meine kaputte Schulter wiederherstellte, saß für die CSU im Landtag. Professor Simon Snopkowski, bei dem ich mein rechtes Bein nach einem komplizierten Drehbruch drei Wochen lang in Gips hing, war Präsident der Israelitischen Kultusgemeinden Bayerns und Senator. Chefarzt Professor Georg Maurer war einflussreicher CSU-Stadtrat. Er wurde berühmt, als er die beim Flugzeugunglück im Februar 1958 schwer verletzten britischen Fußballstars betreute. Maurer organisierte auch alljährlich den Chirurgen-Kongress mit oft sensationellen Themen – und überwarf sich 1969 mit rebellischen Assistenzärzten.

Mithin war das äußerlich etwas altmodische, immer wieder angestückelte Krankenhaus für mich sowohl Station einer Art Überlebensschule als auch eine Quelle interessanter Berichte über Fortschritte in der Medizin. Jetzt steht „Rechts der Isar“ im Kampf gegen die weltweit grassierende Lungenkrankheit wieder einmal mit an der Spitze der weltweiten Forschungsgemeinde. Zwei große Studien haben dieser Tage begonnen.

Nicht weniger als 7000 freiwillige Mitarbeiter des Haidhauser Krankenhauses und anderer Einrichtungen sollen innerhalb der nächsten zwei Jahre auf Antikörper, die sich bei Infektion gebildet haben, serologisch untersucht werden, Die Professoren Percy Knolle und Paul Lingor wollen dadurch herausfinden, welchen Risiken das Klinikpersonal ausgesetzt war und wie lange Antikörper gegen eine erneute Infektion schützen können. Auch für die Entwicklung eines Impfstoffes soll diese Arbeit hilfreich sein.

Ein weiteres, dank Spenden beschleunigtes Forschungsprojekt am Klinikum soll klären, ob ein Monitoring von Covid-19-Infizierten durch Ohren-Sensoren die Überlebenschancen verbessern und Intensivstationen entlasten kann. Erkrankte über 60 Jahre, die sich in häuslicher Quarantäne befinden, können freiwillig teilnehmen. Die rund um die Uhr gemessenen Daten sollen Auskunft darüber geben, wie gut der Körper die Auswirkungen der Erkrankung kompensieren kann. Münchens Gesundheitsreferentin Stephanie Jacobs verspricht sich eine zusätzliche Sicherheit für Erkrankte der älteren Generation, die mit leichten Symptomen zuhause bleiben könnten und nicht im Krankenhaus behandelt werden müssten. Das wäre die große Mehrzahl, denn bisher haben nur 13 Prozent der Infizierten so schwere Symptome, das eine stationäre Behandlung erforderlich ist.

 

  1. Mai. Plötzlich ist sie wieder da, die beinahe schon vergessene Kultur. Der sogenannte Bayernplan der Staatsregierung, der sie neben Zoos und Botanischen Gärten unter ”Freizeit” listet, erlaubt ihr ab heute wieder die Öffnung, wenn auch nur in Teilbereichen, zeitgleich mit Großkaufhäusern, Golfen, Segeln und Reiten.

Nach einer Zwangspause von fünfzig Tagen startet sie das Wochenende mit der Abteilung Musik und Theater. Ein erster öffentlicher Auftritt, nachdem sich die beiden Musen zuletzt nur durch Videos, Streaming oder Hinterhofkonzerte mehr oder weniger bemerkbar gemacht haben.

Für die angemeldete Veranstaltung hat das Kreisverwaltungsreferat ein Stück Kapuzinerstraße autofrei gemacht. Penibel halten sich die „Urbanauten“, die sonst wegen ihrer Isarlust- und Isarbad-Projekte oft mit den Behörden streiten, an die strengen Auflagen für ihre Veranstaltung. Je eine Person, möglichst aus einer benachbarten „häuslichen Gemeinschaft“, darf auf einem der aufs Pflaster gemalten Kreidekreise stehen oder herum hüpfen, die vorgeschriebenen Distanzen sind gewahrt. Für die Rockband von Dr. Will ist sogar ein Abstand von fünf Metern vorgesehen, „denn die Aerosole von Musikern könnten etwas weiter sprühen“, sagt Oberurbanaut Benjamin David. Das klinge lustig, habe aber einen ernsten Hintergrund.

Eine gute Stunde lang schwitzen nicht nur Musikanten, sondern auch Tänzer, Trommler und eine bunte Stelzenläuferin für eine freie, offene Kunstausübung. Auf Autospuren und Gehsteigen ist Platz für maximal 50 Personen, die Polizei drückt ihr Auge zu. Auf Balkonen beobachten weitere Zuschauer die demonstrative Darbietung, die so recht in das immer etwas alternative Glockenbachviertel passt. Sie läuft unter dem Motto „Kulturlieferdienst“. Der sammelt – auch hier – Spenden für Auftritte von arbeitslosen Künstlern vor Senioren-, Pflege- und Flüchtlingsheimen

Sogar der Lebensbereich, den Markus Söder jetzt gern als „Gastro“ listet, spielt ein bisschen mit bei dem Straßenspektakel. Eine italienische Eisdiele bietet Gelati in allen Farben des Regenbogens, während die „Speis Sisters“ nebenan Speis und Trank ausgeben, natürlich nur „to take away“. Am Rand des improvisierten Open-Air-Stage rauscht indes der Verkehr über die Kreuzungen am Baldeplatz, gleich dahinter rauscht die Isar. Alles beinahe wie eh und je.

Zur gleichen Stunde bietet Sabine Rinberger im Turmstüberl des Karl-Valentin-Musäums eine virtuelle, aktuelle Bühne. Bekannte Volksschauspieler und Kabarettisten lesen – jeder an einem eigenen Tischchen – aus Dokumenten über München nach der Befreiung vor 75 Jahren. Die Zitate lassen das Leben in Corona-Zeiten relativ erträglich erscheinen. Manches ist bisher kaum bekannt, zum Beispiel die von Selbstmitleid triefenden Bekenntnisse des Komikers Weißferdl und des Komponisten Richard Strauss, die der unermüdliche Christian Springer gefunden und sortiert hat.

Indes entwirft der nicht weniger kreative Christian Stückl in seinem Volkstheater ein Konzept, um der Bühnenkunst noch vor der Wiedereröffnung der Häuser auf die Bretter zu helfen. Er will in seinem großen Haus jede zweite Sitzreihe und jeden vierten Platz entfernen und die Musiker im Orchester mit Visieren zur Virenabwehr ausrüsten. Die Spielzeit, die eigentlich bis Ende September pausiert, soll auf Mitte Juli vorgezogen werden. Die fünf Stücke des Spielplans will Stückl zeitlich kürzen, auf die Gefahr hin, „dass die Korona-Aufführungen furchtbar fad werden“.

Deutlich geringere Erwartungen hegen Dietmar Lupfer und Christian Waggershauser. „Die Politik hat uns vergessen,“ klagen die Manager der Münchner Hallenkultur. Wird man jemals wieder auch nur annähernd solche Menschenmassen wie früher unterbringen und unterhalten können in der riesigen Muffathalle und anderen Relikten der alten Industriezeit, deren Umwidmung und Unterhalt, vor allem zugunsten jüngerer Bürger, die Stadt sich sehr viel Geld kosten ließ? Ist dort Verkleinerung samt konsequenter Hygiene technisch möglich? Wohin sonst mit den großen Popkonzerten, mit Poety-Slam, Tanz-Performance, Installationen, Diskussionen, Clubabenden? Bricht etwa ein Stück Alternativ-Kultur einfach weg? Geisterspiele wie beim Fußball wären hier jedenfalls keine Lösung.

Ausstellungshallen und Museen dagegen haben – in der „neuen Normalität“ – wieder eine Zukunft. Zuerst kann das Haus der Kunst, das keine Montagsruhe kennt, das Ventil öffnen. Andrang wäre zu erwarten. Doch zunächst ist das eigens geschulte Personal unter sich: der Personenzähler am Eingang, die Kassendamen hinter Plexiglas, die maskierten Saaldiener. Unbeachtet liegen die vielfarbigen Baumwollballen von Franz Erhard Walther in der großen Halle, ungehört bleibt die akustisch belebte Raumkapsel namens „Zugzwang“ von Sung Tieu. Vielleicht ist es der Maskenzwang, der potentiellen Besuchern den Kunstgenuss verdrießt, zumal wenn die Brille beschlägt. Jedenfalls starten in den nächsten Tagen alle Münchner Kunsthäuser guten Mutes. Einige der laufenden Ausstellungen wurden sogar verlängert. Einzelne Museumsteile bleiben geschlossen, etwa die engen historischen Räume der Villa Stuck. Auf den gewohnten Imbiss muss überall verzichtet werden.

 

  1. Mai. Großalarm wegen einer Großdemo. Nicht weniger als 10 000 Menschen wollte die Veranstalterin, eine Immobilienmaklerin, für Samstag anmelden. Erlaubt wurden nur tausend, mit strengen Auflagen, nachdem eine „Hygiene-Kundgebung“ auf dem Marienplatz von zugelassenen 80 auf 3000 Teilnehmehr angewachsen war. Tatsächlich wird an den Zugängen genau gezählt und lange vor Demo-Beginn hermetisch abgesperrt. Auf einem Geviert der Theresienwiese, von der heuer das Oktoberfest verbannt wurde, sind kleine Kreuze aus Papier auf dem Boden geklebt, in Abständen von anderthalb Metern. Freundliche junge Ordner dirigieren die Andrängenden dorthin, wo siee auch brav bleiben.

Verschwörungsprediger und rechte oder linke Radikalinskis sind nicht in Sicht, nur ein paar Impfspinner. Aber haufenweise Coronagefahr-Leugner und Zahlen-Zweifler, Wutbürger der anderen Art, viele bewaffnet mit Protestplakaten gegen „Notstandsgesetze“ und die Abschaffung von Bürgerrechten auf Dauer. Frauen sind deutlich in der Überzahl. Eine, die sich als Ossi bekennt, erinnert an die Hongkong-Grippe vor 20 Jahren mit etwa 40 000 Toten in beiden Deutschlands. Damals hätten Politiker und Medien auf Panikmache verzichtet, im  Gegensatz zu heutet, da Depressionen und Existenzängste in noch nicht abzusehendem Maße systematisch erzeugt würden. Ähnlich bedenkenswert dann Argumente weiterer Redner.

Große schwarze Blocks säumen den Bavariring. Offenbar gilt die Parole: So viele Protestler – so viele Polizisten. Alle vermummt, einige hoch zu Ross. Nur mit Ach und Krach gelingt den Einsatzkräften die Auflösung von Grüppchen ausgesperrter, unmaskierter und eng zusammenstehender Zaungäste, deren Zahl ihr Chef auf 2500 schätzt. Auch die Würde von Polizistinnen und Polizisten gelte es zu achten, mahnt die Hauptrednerin einzelne Buh-Rufer. Fast friedlich endet nach einer guten Stunde das Spektakel, das ein Modell sein könnte für das Demonstrieren in Corona-Zeiten.

Eher unbeachtet bleiben indes die immer noch laufenden, meist privat organisierten Veranstaltungen zum Gedenken an die Befreiung von der Nazi-Herrschaft vor 75 Jahren. Dabei ergäben sich einige Parallelen: So wie jetzt ein Stück Normalität nach dem anderen wiederkehrt, so war ab Mai 1945 in diesem „lebendigen Schutthaufen“, wie München vom spätere OB Thomas Wimmer bezeichnet wurde, das richtige Leben neu erwacht, nur dass dies damals nicht unter der Losung „Lockerung“ lief: Nach und nach machten Behörden, Buchhandlungen und Banken, Kirchen, Kinos und Krankenhäuser wieder auf. Im Juni gab es das erste Fußballspiel (FC Bayern gegen FC Wacker), im Juli folgten Trambahn, Post und das erste große Konzert. Im Bürgerbräukeller, den hungrige Münchner und befreite „Fremdarbeiter“ eben noch geplündert hatten, wurde b

wieder auf. Im Juni gab es das erste Fußballspiel (FC Bayern gegen FC Wacker), im Juli folgten Trambahn, Post und das erste große Konzert. Im Bürgerbräukeller, den hungrige Münchner und befreite „Fremdarbeiter“ eben noch geplündert hatten, wurde bald sogar wieder Bier ausgeschenkt – allerdings nur an amerikanische Soldaten.

Bier her – das ist neben den Demos das zweite aktuelle Großthema. Am Montag dürfen die „Freischankflächen“ in ganz Bayern wieder öffnen. Doch so einfach lässt sich  das urbayerische Verlaangen nicht verwirklichen. Beim Viktualienmarktbiergarten, eine meiner Stammlokale, muss man Schlange stehen, um einen der reduzierten Plätze unter den Kastanien zugewiesen zu bekommen.tern. auch darf die mitgebrachte Breze am Tisch nicht verzehren, und zu essen gibt’s sons weit und breit nicht. Darob vergeht  mir erst mal der Appetit.

Indes sind vor dem Holz-Bistro am Stadtmuseum gerade noch zwei Stühle leer. Der Wirt hat sein Freigelände penibel vermessen. Erst nachdem wir Name, Adresse und Telefonnummer eingetragen haben, reicht uns der Wirt eine in Folie eingeschweißte Speisenkarte, die er danach desinfizieren soll. Lieber wäre ihm, dass man den  QR-Code am Eingang scannt und vorzeigt, und dass man bargeldlos bezahlt. Die Preise hat er etwas angehoben, jetzt kostet der Flammkuchen 15 Euro. Die Senkung der Mehrwertsteuer geltet erst ab 1. Juni, brummt der Chef hinter seiner Maske. Die meine müsste ich bei einem Gang zur Toilette auch anlegen. An den Getränkepreisen ändere sich eh nichts. Ob es ihm hilft, dass neun bayerische Großbrauereien, wie diese in Großanzeigen werben, eine Million Maß Gratisbier an „unsere Wirte“ spendieren wollen?

Bleibt den monatelang zugesperrten Gastronomen immerhin die etwas vage Zusage der Stadt München, bei einer Verbreiterung von Freischankplätzen großzügig zu verfahren und das Aufstellen von Kiosken, Karussells und anderen, vorerst nicht nutzbaren Jahrmarktattraktionen dulden zu wollen, wozu jeweils Parkplätze geeignet wären. Fraglich, ob all das den mit Mehrkosten und Mehrarbeit verbundenen Hygiene-Aufwand auch nur ein wenig aufwiegen kann. Einer der Traditionswirte im Tal hat bereits das Handtuch geworfen. Und wir alle, die  wir gern Gäste waren, werden uns wohl oder übel an eine neue Normalität auch in der Gastronomie gewöhnen müssen.

 

  1. Mai. Auch bei der Mobilität werden wir uns an eine neue Normalität gewöhnen müssen. Beizeiten vor dem Neustart des Ausflugs- und Urlaubsverkehrs zu Pfingsten – aber auch im alltäglichen Stadtverkehr – zeigen sich zu Wasser, zu Lande und in der Luft deutliche Verlagerungen an. Was bisher vor allem die Grünen angestrebt und nur teilweise erreicht haben, scheint nunmehr einer unsichtbaren Mikrobe zu gelingen. Politiker und Planer sehen sich vor vielfache Herausforderungen gestellt.

Von meinem Arbeitszimmer aus kann ich beobachten, wie der breite Isarradweg von Tag zu Tag stärker bevölkert wird. Das heißt, immer mehr Münchnerinnen und Münchner steigen um, schwingen sich auf den Sattel und strampeln sich frei von der so lange verordneten Immobilität. Die Radler-Kreuzung an der Maximiliansbrücke (wo ich vor 75 Jahren den Einmarsch der Amerikaner miterlebt habe) ist auch für Fußgänger gefährlich geworden, zumal hier obendrein Jogger übersetzen und Kraftfahrzeuge rechts abbiegen. Wie dicke Werbebeilagen beweisen, boomen Fahrrad-Verkauf, -Verleih und -Reparatur. Neu im Angebot sind Lasträder für Besorgungen, Cargo-Bikes genannt. Sie erinnern an die „Roten Radler“ aus Ludwig Thomas „Münchner im Himmel“ ..

Deutlich abgenommen hat dagegen der Autoverkehr, zum Beispiel auf meiner sonst sehr belebten  Widenmayerstraße, die mal eine Stadtautobahn werden sollte. An der Flaute auf den Fahrbahnen hat sich wenig geändert, seit Söder das öffentliche Leben wieder „hochfahren“ ließ. Selbst auf den Autobahnen rund um München belebt sich der – zunächst stark zurückgegangene – Verkehr nur langsam, Obwohl doch, wie die Autobahndirektion Südbayern meldet, viele Leute „Schritt für Schritt aus dem Home-Office zurück kommen“ und die Züge des Öffentlichen Personennahverkehrs immer noch mieden. Dabei heben Deutsche Bahn und Privatbahnen schon am 18, Mai den Regelbetrieb auf allen südbayerischen Netzen wieder aufgenommen.

„Corona hat unser Mobilitätsverhalten verändert,“ beschreibt der Münchner Stadtrat Nikolaus Gradl die noch kaum absehbare Entwicklung. Seine SPD-Fraktion hat deshalb beantragt, Autospuren bestimmter, viel befahrener Straßen in Radlstreifen, sogenannte Pop-up-Lanes umzuwandeln. Mein Bezirksausschuss Altstadt-Lehel hat eine „Entleerung des Zentrums“ festgestellt; Er fordert auf Antrag der Grünen eine „Neuordnung und mögliche Umwidmung des Straßenraums“. Nach dem Vorbild von Brüssel. Endziel der rot-grünen Stadtregierung ist jetzt eine autofreie City.

Natürlich erhebt sich Widerstand gegen derart radikale Veränderungen, vor allem seitens CSU, FDP, Bayernpartei und ADAC. Neue Fronten im Ringen um Freiheits- und Bürgerrechte tun sich auf. Einigen Autofans sind dabei offenbar die Sicherungen durchgebrannt. Das zeigt sich etwa daran, dass die Polizei immer öfter  illegale Rennen meldet. Was wiederum den Bundesverkehrsminister nicht hindert, auf eine Lockerung der Sanktionen für Autoraser zu drängen. Am selben Tag verdeutlichen zwei Meldungen in der Abendzeitung, dass die Nerven nach längerer Demobilisierung nicht nur bei frustrierten Autofahrern blank liegen: “Rentner bedroht Frau und Tochter mit Pistole“. Und: „Mann zielt mit Waffe aus dem Fenster.“

Eine andere Verkehrsebene: der Flughafen Franz Josef Strauß. Oft und oft habe ich über das „Monster im Moos“ berichtet, über seine leidvolle Vorgeschichte, über die vielen Probleme und großartigen Prognosen. Immer seltener dann habe ich mich, nachdem ich meine Reisen auf die mitteleuropäische Umgebung Münchens beschränkt habe, in die Warteschlagen an einem Check-in-Desk, vor der Sicherheitskontrolle und draußen vor dem Gate gedrängt. Und jetzt? Ich will mich mal umschauen.

 

  1. Mai. Gespenstisch: Riesige, fast menschenleere Hallen, die vor Kurzem noch Drehscheiben der Welt waren. Ungewohnte Stille wie in einem Dom, keinerlei Hektik wie früher. Leere Schalter. Die Sparkasse hat auf, vier Damen sitzen hinter Glas, wollen aber nicht verraten, wie viele Kunden an so einem Tag kommen. Auch die sonstigen Läden sind leer. Nichts los im Erdinger Moos. Im Terminal 1 und im neuen Satellitengebäude jeglicher Betrieb. Sogar der Besucherpark ist geschlossen, soll aber an Pfingsten wieder zugänglich sein; dann will „Tante Ju“ am Aussichtshügel sogar Speisen und Getränke „to go“ anbieten.

Abgefertigt wird nur in Terminal 2. Theoretisch. Fluggäste oder Flugbegleiter sind jedenfalls nicht zu zu erblicken. Immerhin zeigt die Anzeigetafel ein paar Abflüge an, von Amsterdam bis Riga. Immerhin naht Pfingsten, das früher mal die erste große Reisewelle brachte. „Zur Zeit zählen wir etwa 2000 Passagiere pro Tag,“ verrät mir Ingo Anspach, der Pressesprecher des Münchner Flughafens,  dessen Teamt teilweise kurzarbeitet. Zum Vergleich: Vor Corona waren hier täglich 120 000 bis 150 000 Personen am Flughafens Franz Josef Strauß abgeflogen und angekommen. Weniger als ein Zehntel sind es jetzt.

Im März noch, als der die Zahl der Fluggäste schon um 65 Prozent gesunken war, arbeiteten mehr als 38 000 Menschen aus aller Herren Länder für Deutschlands zweitgrößten Airport. 13 000 allein bei der Lufthansa, die jetzt nur noch 3000 Frauen und Männer stationiert hat. Eine einsame Stewardess in Zivil huscht vorbei und hofft, bald wieder eingesetzt zu werden, statt ein Logo zu basteln für die künftige zweite Stammstrecke der S-Bahn;  auch die fährt momentan so gut wie leer heraus

Die Lufthansa leidet, trotz des noch schwebenden Milliarden-Deals mit Berlin. Höchstens 50  Starts und Landungen fertigt sie  nun täglich ab. Die meisten jener über hundert Flugzeuge, die weit draußen abseits des Rollfelds geparkt sind, tragen das Kranich-Logo. Orangerote Planen oder Folien schützen Triebwerke und andere Teile. Regelmäßig müssen die Maschinen zum Check in den Hangar. Für Juni aber hoffen alle auf ein einigermaßen normales Take off. Noch freilich sind große Teile der Start- und Landebahnen aufgerissen – gute Gelegenheit zum Ausbessern der strapazierten Betondecke und der Befeuerung.

Die Flughafenleitung ist überzeugt, „dass der globale Mobilitätsbedarf auf mittlere Sicht steigt“.  Der Marketingspruch meint, dass der Luftverkehr wieder Höhen gewinne. Immerhin kam soeben  die Zusicherung, dass die größte Fluggesellschaft Europas den Flughafen München als einzigen Standort für das größte Passagierflugzeug der Welt –  500 Plätzen auf zwei „Etagen“ –  auserkoren hat. Alle acht bestellten Exemplare des Airbus 380 sollen künftig das Kreuz des deutschen Südens neu erstrahlen lassen.  In einem internen Rundschreiben schätzen die Personalmanager der Lufthansa allerdings, dass die Corona-Krise noch bis 2023 den Flugverkehr belasten werde.

Halbwegs in Betrieb ist auf dem Flughafen, den die Statuen von Ludwig I. und von Franz Josef Strauß zieren, zur Zeit allein der Airbräu. Mittags versammelt sich ein Teil des vor Ort verbliebenen Airport-Personals im Biergarten, der natürlich nach allen Regeln der Hygiene und der Social Distance funktioniert. Wieder zwitschern die Vögel in den Bäumen. Nur auf die Weißwürste, die mich früher nach jeder Heimkehr von fernen Zielen erquickt haben, muss vorerst verzichtet werden.

Um die Krise der Mobilität zu komplettieren: Auch auf unseren Ausflugsseen herrscht derzeit eher Flaute als frischer Wind. Zwar soll am Pfingstsamstag an den großen oberbayerischen Seen wieder das Signal “Leinen los” aufgezogen werden. Die Starnberger Personenschifffahrt aber ging noch kurz vor Pfingsten davon aus, „dass die Beförderungskapazitäten reduziert werden müssen”. Auch rechnen die staatlichen Reeder damit, “dass die gesetzten Rahmenbedingen Auswirkungen auf den Fahrbetrieb haben werden”. Dies würde, heißt es, unter anderem Verspätungen und ein verzögertes Ein- und Aussteigen bedeuten. Und geduldige Anpassung wie in vielen anderen Bereichen der neuartigen Corona-Welt.

 

  1. Juni .Liedermacher und Spaßmacher, Stehgeiger und Straßenmusikanten, Disk-Jockeys und Barmixer, Party- und Eventmanager – sie und viele andere Zubringer des vorwiegend abends oder nachts ausgeübten Unterhaltungsgewerbes fühlen sich nun schon allzu lange ausgegrenzt, vergessen von staatlicher und städtischer Fürsorge für bedrohte Existenzen. Alles nicht so wichtig? Kleinkunst, Kleinkram im Vergleich jedenfalls mit den noch bis 15. Juni geschlossenen Hochkunst (Theater, Konzertsäle und Kinos)? Vermisst allenfalls von notorischen Nachtschwärmern?

Vielleicht gelten aber doch andere Maßstäbe in einer Stadt, die sich immer, manchmal geradezu penetrant gewisser Traditionen (Stichwort: Schwabing) und ihrer besonderen „Freizeitqualität“ gerühmt und weltweit damit geworben hat. Als Korrespondent auswärtiger Zeitungen habe ich mich früher selbst gern an derlei Lobpreisung beteiligt.

Das von Kultusminister Bernd Sibler verkündete Hilfsprogramm, das bayerischen Künstlerinnen und Künstlern nach begründetem Antrag drei Monate lang je tausend Euro verheißt, findet nur wenig Applaus. Ein Künstlerverbund hält es für praxisfern und diskriminierend. Die Einnahmeverluste würden sich bis weit ins nächste Jahr auswirken. „Unverschämt“ nennt der Strauß-Kabarettist Helmut Schleich die Meinung des Strauß-Nachfolgers Söder, damit gäbe es nun kaum noch Einschränkungen im Kulturbetrieb. Sibler sieht indes nur ein „Konzept für einen Neustart von Kunst und Kultur unter veränderten Bedingungen“.

Ganz klein haben die Kleinkünstler inzwischen auf eigene Faust und Kosten und unter veränderten Bedingungen den Neustart gewagt. Kreativität, Mut, ja Idealismus sind da gefordert. In Wohnzimmern, Tonstudios oder auf Bühnen, beispielsweise im „Stemmerhof“, werden immer öfter und perfekter Programme veranstaltet und per Livestream ins Internet gespielt, bisweilen mit Spendenbitte oder Bezahlschranke. Dafür bedarf es allerdings jeweils der Anmeldung, die von der Landeszentrale für neue Medien stets unbürokratisch und kostenfrei genehmigt wird. Digitale Angebote dieser Art, meint Münchens Kulturreferent Anton Biebl, könnten künftig die Kulturszene bereichern.

Technische und vor allem rechtliche Fragen wären aber noch zu klären. Kunst auf Antrag, Kleinkünstler als Rundfunkanbieter – wie geht das zusammen? Etliche Probleme tauchen auf. So musste das winzige „Hofspielhaus“, das die Falkenturmstrasse im Hofbräuhausviertel jeden Abend bespielt hatte, das schnell beliebt gewordene Programm zu Pfingsten stornieren, „da eine rechtliche Klärung der Rahmenbedingungen erforderlich ist“. Dagegen dürfen fortan die „Urbanauten“, die mit einem Straßenkonzert wie einst angeblich die Schäffler den Pest-Bann gebrochen hatten (siehe Notiz vom 8. Mai), allabendlich auf autofreien Straßenstücken ihren „Kulturlieferdienst“ darbieten, demnächst den „Flying Circus“. Einzige behördliche Bedingung: Zuschauer müssen sowohl in Abstand wie auch in Bewegung bleiben.

Die Schwabinger und Münchner Nächte sollen und könnten endlich wieder ein bisschen heller werden.

 

  1. Juni. Der Marienplatz ist wieder voll, die Menschen eilen und drängen wie einst. Auch Stadtführungen sind erneut angesagt. Fünf Frauen und zwei Männer wollen „Liebe, Lust und Leidenschaft“ im alten München kennen lernen. Treffpunkt ist die von der Sparkasse der Schwesterstadt Verona gestiftete Statue der Julia. Carmen Finkenzeller von „Stattreisen“ verteilt Schokoherzerl und macht gleich auf eine zeitbedingte Veränderung aufmerksam. Der Bronzebusen der schönen Braut des Romeo ist deutlich nachgedunkelt und nicht mehr so goldig poliert wie früher. Ein Indiz für das mehrwöchige Ausbleiben von Touristen, die – so die Mär – durch Berühren just dieser Brust ihr Liebesleben verbessern konnten.

Auf dem Marienplatz. im Rathaushof und im Alten Hof erzählt die Stadtführerin noch andere „Münchner Liebesgeschichten“, jeweils mit Hinweis auf Figuren und Inschriften. Schöne und grausige Geschichten. Auf weitere Assoziationen zu Seucheleidenszeiten verzichtet sie aber, hat ja nichts mit Liebe zu tun. Immerhin befindet sich das bekannteste Symbol der Pest an der Südwestecke des neuen Rathauses: ein Gift sprühender Drache. Und am Sockel der 1638 eingeweihte Mariensäule erscheint der  Schwarze Tod in Gestalt eines mit Hahn und Schlange bestückten Basiliken.

Da die die „Stattreisen“ und andere Führungen nach wie vor noch ohne Touristen stattfinden, kann Frau Finkenzeller ihre Vorträge in waschechtem Bayerisch vortragen, ohne übersetzen zu müssen, wie gewohnt. Vorerst bleiben die Münchner unter sich. Die Stimmung sei gut, wird mir aus der Geschäftsstelle mitgeteilt. Eine 82-jährige Dame habe sich gefreut, dass sie jetzt wieder „sinnvoll unterwegs“ sein könne. Leider mache das Hygienekonzept persönliche Gespräche nicht ganz einfach.

„Gästeführer sind oft die Einzigen, mit denen die Besucher einer Region intensiv in Kontakt kommen. Sie prägen das Bild, das Gäste mit nach Hause nehmen. Mit ihrem Sachverstand, ihrer Vermittlungsfähigkeit und ihrer Authentizität tragen sie entscheidend zum touristischen Erfolg einer Region bei.“ So begründete der Münchner Gästeführerverein, dessen 200 Mitglieder in 30 Sprachen führen, in einem Brief an Ministerpräsident Söder die Bitte um Einbeziehung in das Künstlerhilfsprogramm (siehe Notiz vom 2. Juni).

Max Zeidler, der am Wochenende zum Thema „Migration“ führte legte einen Meterstab auf den Boden, um das Abstandsgebot zu verdeutlichten. Am 30 Juni führen die „Stattreisen“ durchs Münchner Klinikviertel, das sich zur Zeit sehr verändert. Für das DGB-Bildungswerk recherchiert Heini Ortner einen Rundgang mit dem Thema „Gesundheitliche Versorgung in München im Mittelalter“,  die mörderische Pest und die aus Afrika eingeschleppte Infektionskrankheit Lepra eingeschlossen. (Schon 1213 erwähnt die Stadtchronik das erste Leprosenhaus auf dem Gasteig).

Das anhaltende Ausbleiben vonn Touristen, die üblicherweise ab Mai die bayerische Hauptstadt bevölkern, offenbart sich auch beim anschließenden Dämmerschoppen im Hofbräuhaus. Die Restaurants, Trinkstuben und der Festsaal in den oberen Stockwerken sind geschlossen. Leere Tische in der Schwemme, keine Blaskapelle, kein Oans-zwoa-gsuffa, kein Lärm fröhlicher Zecher, kein Aneinandervorbeidrängen, alle Kellner maskiert und ausnehmend freundlich, fast alle sind Ausländer. In den zehn Stunden, die das berühmteste Wirtshaus der Welt mit den bekannten Auflagen derzeit wieder geöffnet hat, kommen jetzt täglich etwa 600 Gäste, verrät der Mann am Eingangspult, der Namen und Telefonnummern notiert und Plätze zuweist. Gemütlichkeit geht anders.

In verschiedenen Phasen glaubt der Münchner Wirtschaftsreferent Clemens Baumgärtner (CSU), dem die Organisation der heurigen Wiesn entgangen ist, den für München nicht ganz unwichtigen Tourismus im zweiten Halbjahr wieder ankurbeln zu können. Erst will er in der Großregion München werben lassen, dann in Österreich und der Schweiz, dann im übrigen Europa und schließlich wieder weltweit. Attraktion Nr.1 soll ein vom Stadtrat beschlossenes Programm namens „Sommer in der Stadt“ sein, das auch der Gastronomie aus der Patsche helfen könnte. In Parks, vor Wirtshäusern, auf Parkplätzen, in verkehrsberuhigten Zonen und wo auch immer es möglich ist, sollen sich Schausteller und Standlbetreiber entfalten können. Ein dezentralisiertes Oktoberfest gewissermaßen, nicht von allen Traditionalisten gutgeheißen.

 

 

  1. Juni. Fast alle Münchner Museen haben wieder regulär geöffnet. Viele haben umgeräumt, alle haben hygienische Vorrichtungen und Führungslinien eingebaut, einige haben ältere Ausstellungen verlängert oder neue eröffnet. Doch auch in der vergangenen Zeit der Stille wussten sie ihre Schätze per Internet ansprechend, oft in nie gekannten Zusammenhängen, zu präsentieren. Die neue. Die digitale Methode der Kulturvermittlung hat durchaus Zuspruch gefunden. Ich meine: Sie sollte nun – wie manch andere „Notlösung“ – systematisch weiterentwickelt werden.

Ein hervorragendes Beispiel dafür ist ein vom NS-Dokumentationszentrum gestalteter Rundgang. Vor Hinterlassenschaften des ehemaligen Parteiviertels und anhand bisher kaum bekannter Archivbilder berichtet die Direktorin Mirjam Zadoff über die Befreiung Münchens vor 75 Jahren. Interessant selbst für Zeitzeugen und Zeitungsmenschen, die den Einmarsch der Amerikaner am 30. April 1945 miterlebt und öfter über die Nachkriegszeit geschrieben haben. So wird der virtuelle Besucher in die sonst unzugänglichen Keller der beiden erhalten gebliebenen Nazipaläste am Königsplatz geführt, wo seinerzeit mindestens 600 wertvolle Gemälde sowie die Karteikarten von elf Millionen Parteigenossen und große Mengen Wein geplündert wurden. Das Virus als Schlüssel für ein Stück Zeitgeschichte.

„Das Museum wird als Raum sozialer Interaktion wieder lebendig,“ heißt es zu eine Aktion „1:1 mit Kunst, Design und Architektur“, die nunmehr jeden Sonntag gespielt wird. An festen Standorten in der Pinakothek der Moderne sprechen  Kunstvermittler jeweils zehn Minuten lang mit einer Person, einem Paar oder einer Familie über ausgestellte Werke, ihre Wirkung, ihre Geschichte und ihre Besonderheiten. Ein vorläufiger Ersatz für die noch nicht wieder möglichen Führungen. Die Warteschlangen am Haupteingang sind trotzdem nicht zu vermeiden.

Manches Kreative hat die Krise erzeugt, aber auch Initiativen, die man unter dem Stichwort „Corona-Kuriosa“ bäündeln könnte. Interessenvertreter aller Art sehen sich veranlasst, ins allgemeine Klagekonzert einzustimmen. So  haben 50 Hochzeitsdienstleister, denen ihr Geschäft derzeit etwas entschwunden ist, vor dem Rathaus eine 40 Meter lange Hochzeitstafel in Weiß aufgebaut, um ebenfalls „konkrete Staatshilfe“ zu erbitten. Vielleicht hilft da auch die Aktion „Socialmatch“: Fünf Frauen und fünf Männer treffen sich ab 22. Juni, nach Online-Vereinbarung, im Park-Café und lernen sich durch ein speziell entwickeltes Spiel kennen, möglicherweise fürs Leben.

Zwar dürfen jetzt in Bayern auch Hobby-Musiker wieder proben – höchstens jedoch zehn Personen inklusive Leitung, ohne Publikum, möglichst im Freien, Bläser drei Meter Abstand, Querflöten „auf Grund der höheren Luftverwirbelung“ am Rand platziert, alle 20 Minuten gründlich lüften. Besonders erzürnt sind die Chöre, die traditionelle Gemeinschaften bilden; sie dürfen überhaupt nicht üben, weil „lautes Singen mit erhöhter Infektionsgefahr verbunden ist“. Deutsche Präzision.

„Poesie gegen Corona Blues“ will eine Aktion der Künstlerin Katharina Schweißgut vermitteln. In einen rot lackierten Briefkasten in Giesing kann jedermann – fast nur Freuen machen mit – sein Empfinden von der Krise als „Getipptes, Gekritzeltes oder Kalligrafiertes“ einspeisen. Per Youtube-Video werden auch Gedichte gelesen, ernste und heitere. Zum Beispiel: „Stürmische Zeiten, Unruhe ist in der Welt. Kehrt Ruhe zurück?“ Oder: „Neuerdings herrscht überall, nicht nur in Bayern, Maskenball.“

Auf den Besuch bayerischer Biergärten werde ich bis auf Weiteres verzichten. Abschreckendes Beispiel: Chinaturm, sonniger Samstag. 12.30. Suchen des verschobenen Radstellplatzes sowie des einzigen Eingangs. Maske auf, Schlange stehen, Abstand. An Stehtisch ausgehändigten Meldezettel beschriften. Durch ein mit Signalbändern und Bodenpfeilen markiertes Labyrinth zu den Theken. Keine Weißwürst, nur große, zähe Brezn, doch erhöhte Preise. Klaglos zahlen angesichts des Aufwands. Tisch 61 mit ausgehändigter Nummer suchen. Maske ab zum Krug stemmen. Suche nach Desinfektion, weil inzwischen etliche Dinge angefasst. Umzug auf schattigen Platz nicht möglich. Einzige Lichtblicke: das tadellose Bier und das merklich gedrillte Personal. Stumm und  allein betrachtet man die Tische rundum. Die meisten mit einzelnen oder gar keinen Gästen. Kein Wunder – such nicht, dass ein Wirt nach dem anderen das Tischtuch wirft. Ach, wie war es doch vordem…

 

  1. Juni. Heute endet der am 16. März von Ministerpräsident Markus Söder verkündete Katastrophenfall. Zeit also für weitere „Lockerungen“ der lästigen Corona-Zwänge. Gut, dass in den bayerischen Ministerien offenbar Brigaden von Beamten am Werk sind, um immer wieder neue Regeln auszutüfteln, wobei auch nicht das kleinste Detail vergessen wird. Auf minutiöse Arbeit deuten jedenfalls einige der Neuigkeiten hin: So dürfen künftig 100 statt nur 50 Personen miteinander feiern, Theater und Orchester im Freien vor 200 statt nur vor 100 Zuschauern spielen und Urlauber auch ohne eigenes WC im Wohnwagen campen. Und: Die Sperrstunde in Gaststätten wurde um eine Stunde auf 23 Uhr verlängert und der Mindestabstand in Kirchen von zwei auf anderthalb Meter verkürzt.

Nicht ganz so locker, aber ebenso genau wird die Krise in städtischen Behörden aufgearbeitet. mit ihrem Team vom Statistischen Amt Münchens hat meine Nichte Angelika im monatelangen Home-Office aufgeschlüsselt und grafisch dargestellt, was sich im Wesentlichen im vergangenen Vierteljahr der Katastrophe im öffentlichen Leben geändert hat. Diesem „strukturellen Daten und Auswirkungen im Bereich der Gesellschaft“ kann ich beispielsweise entnehmen, dass die Arbeitslosenquote seit Jahresbeginn von 3,2 auf 5,1 Prozent im Mai gestiegen ist oder dass ich einer der 83 308 Münchner bin, die zur Risikogruppe gehöre, weil sie älter als 80 Jahre sind.

Die Bilanz des Münchner Stadtmuseums ist eher optischer und haptischer Art. Gesammelt wurden Dokumente, die Bürgerinnen und Bürger, junge und alte, zum leidvollen Thema des Jahres eingeliefert haben. Da dominieren natürlich die oft komischen, liebevoll angefertigten Mundschutzmasken sowie die Fotos von der großen, ungewohnten Leere: auf Autobahnen, im Straßenbild, in Biergärten, auf dem Flughafen, im zunächst ausverkauftem Supermarkt. Polizisten mit Motorrädern kontrollieren ein einsames Pärchen im Englischen Garten. „Stop! Ausgangssperre. Tötliches Virus,“ plakatierte eine Steffi etwas fehlerhaft vor ihrer Behausung. Superoptimistisch verkündet jemand: „Ois werd guad.“

Dem Hin und Her bei den staatlich angeordneten Einschränkungen und Lockerungen für Kita-Schulkinder begegnet die Stadt München mit einem schönen Programm. Anstelle des früheren Kinder-Kulturfestivals (KiKS) auf der Schwanthalerhöhe mit Massenbesuch wurden am vergangenen Wochenende an 80 Plätzen in verschiedenen Stadtteilen über 250 Angebote für die Sommerferien samt Stadtplänen und Spielmaterialien in Tüten verteilt. Verkauft wurden Karten für eintägige Erlebnisreisen. Obendrein können Jugendliche online über www.ak-kinderundjugendbeteiligung.de ihre Wünsche zur Freizeitgesteltung zur Kenntnis bringen.

 

  1. Juni. In allen acht städtischen Hallen- und Freibäder darf jetzt wieder geschwommen und geplanscht werden; auch Sauna und Fitness haben wieder auf, und sogar die Erdinger Thermen. Aber ach: Erst muss man online buchen, dann bekommt man per Mail einen QR-Code, der zum befristeten Besuch in einem bestimmten Bad berechtigt. Wie umständlich! Und derzeit auch unnötig. Denn direkt unter dem Volksbad lockt Münchens schönster Strand: eine täglich anders geformte Kiesbank mit Sträuchern, gefahrloser Strömung, spritzigem Wasserfall an der Schleuse, Steg für Schaulustige und nahem Biergarten, wo die Leute allerdings bis zum Bad hin anstehen. Mein Lieblings-Lido seit Jugendzeiten. Natürlich wird er in diesen Sonnentagen massenhaft genützt. Ein Schnappschuss zeigt, dass das Abstandsgebot durchaus eingehalten wird.

Die Krise hat natürlich auch die Medienwelt erschüttert und wohl nachhaltig verändert. Deshalb  ein paar Worte in eigener Sache: Zwar ist die Nachfrage nach aktueller Information und damit die Anforderung an uns Zeilenschreiber deutlich gewachsen, gleichzeitig aber ist der existenzsichernde Anzeigenmarkt deutlich geschrumpft, so dass 14 bayerische Verlage Kurzarbeit anmelden mussten. Nicht wenige Redakteure wurden in Homeoffice geschickt. Große Textteile der Blätter waren – und sind immer noch – allein vom Thema Corona blockiert. Pressekonferenzen und andere Veranstaltungen sind ausgefallen. Folge: Vielen freien, oft unterbezahlten Journalisten sind Themen und redaktionelle Aufträge weggebrochen. Ich kenne Kolleginnen, die sich deshalb einen neuen Job zum Beispiel in der Altenhilfe suchten.

Staatliche Soforthilfe greift eher selten. weil manche Freien keine eigene Betriebsstätte oder keinen „Liquiditätsengpass“ vorweisen können. Dazu kommt, dass in unserer Branche nun weniger von Mensch zu Mensch kommuniziert wird als vielmehr über allerlei neue Medien. Bisher traf man sich regelmäßig am Stammtisch oder bei einem Termin. Jetzt„traf“ ich zweimal Kolleginnen und Kollegen bei Video-Konferenzen , was für einen älteren, mit der Schreibmaschine aufgewachsenen Digital-Azubi gar nicht so einfach ist. Trotz Zoom konnte ich mich weder optisch noch akustisch ins Gespräch über Sozialfragen und über Pressefreiheit einbringen (beim nächsten Mal sollte es aber klappen).

Am gestrigen Sonntag interviewte mich ein aus NRW angereister Filmemacher. Er arbeitet an einer Dokumentation über Bruno Gröning, den ich im Juni 1949 in Herford als „Wunderdoktor“ entdeckt und  dann als Reporter der Abendzeitung jahrelang kritisch beobachtet hatte. In Krisenzeiten „wärmte man sich an Wahrsagern und Wunderheilern“, schrieb neulich der Historiker Norbert Frey in der Süddeutschen Zeitung und erwähnte den „Stanniolkugeln verteilenden Schreiner“.

Auch die Autoren von Büchern rappeln sich wieder auf, nachdem sie wegen geschlossener Buchhandlungen und ausgefallenen Lesungen auf Verkäufe verzichten mussten. Die Stadt hat einen ihrer Läden im Rathaus-Parterre an sieben kleine Verlagen günstig vermietet. Mindestens ein Jahr lang will der „Münchner Buchmacher“  ein literarisches Schaufenster und Verkaufsstandl der Stadt sein. Auch Vorträge und Lesungen sind vorgesehen. Für mich ein Lichtblick, nachdem die Vorstellung meiner Stadtchronik „Münchner Meilensteine“ dem Virus zum Opfer gefallen war. Kommunalreferentin Kristina Frank stellte in Aussicht, dass die Stadt noch weitere eigene Immobilien Künstlern zur Zwischennutzung bereitstellen wolle. Und Kulturreferent Anton Biebl verriet, dass sein Amt derzeit 14 000 Hilfsanträge aus dem Kulturbereich zu bearbeiten habe.

 

  1. Juli. „Masken ab!“ Je höher die Temperaturen steigen, desto lästiger wird der vorgeschriebene Mundschutz und desto lauter erflehen immer mehr Bürger oder ganze Gruppen, auch Prominenz darunter, ein schnelles Ende eben dieser Zwangsmaßnahme. Söder aber bleibt hart. Er fürchtet, dass die allgemein für Herbst erwartete zweite Infekt-Welle früher und heftiger kommen könnte. Er wird ja von Virologen beraten. Vielleicht genügt auch ein Blick in die Medizingeschichte. In Militärakten des Bayerischen Hauptstaatsarchivs zur „Spanische Grippe“ konnte ich bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit der heutigen Corona-Pandemie entdecken:

Plötzlich, Ende August 1918, waren zunächst in den USA viele Neu-Infektionen gemeldet worden, nachdem das damalige Influenza-Virus bereits deutlich auf dem Rückzug war. Sein Stamm war nämlich mutiert, hatte sich nur ein wenig verändert. Und die Gegenmaßnahmen waren ebenso deutlich fast überall gelockert worden. In einigen Großstädten kam es zur öffentlichen Verbrennung der verhassten Masken. Die Schützengräben des noch flackernden Weltbrands boten diesbezüglich alles andere als Schutz. Mann auf Mann lagen auf beiden Seiten der Front. Im revolutionstrunkenen München wurden Soldaten als Pfleger in die Lazarette kommandiert.

In gewisser Hinsicht sind damit Szenen vergleichbar, die sich zur Zeit hierorts an Sommerabenden  abspielen. Besonders an drei beliebten und laufend beobachteten „Hotspots“ tobt ein Tänzchen auf dem Vulkan: An der an er Isar zwischen Reichenbachg- und Corneliusbrücke, auf dem Gärtnerplatz und rund um den Wedekindplatz, wo Ende Juni 1962 aus heiterem Himmel die „Schwabinger Krawalle“ begonnen hatten. Damals griff die Polizei sehr hart zu. Das wagt sie heute nicht mehr. Die strategischen Möglichkeiten, das Völkchen zur gebotenen Distanz untreinander und zum Vermummen anzuhalten, sind begrenzt. Ebenso ratlos wie die Ordnungshüter, stöhnen die jungen Leute, die sich zu lange schon eingeengt fühlen: „Wo sollen wir denn sonst hin?“

Auf die allgemeine Demaskierung, auf eijne Art Befreiung, werden wir im Freistaat Bayern wohl noch eine Weile warten müssen. Und wie lange auf die zweite Welle?

Einige Experten vermuten einen möglichen neuen Viren-Herd weniger in Open-Air-Mileus als in eher geschlossenen Orten der Geselligkeit, Musterbeispiel: das Tiroler Après-Ski-Eldorado Ischgl. Gemeint sind die immer noch geschlossenen Bars und Kneipen sowie die längst wieder offenen Biergärten und Restaurants. Nun hat Bayerns Wirtschaftsminister nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er ein Freund von Wirtschaften aller Art ist. Das weiß wenigstens die weiß-blaue Welt spüätestens seit dem 25. Mai, als Hubert Aiwanger in schönstem Stoiber-. oder Loriot-Stil der Presse klarmachte, wie viele „Kumpel“ mit einsfünfzig Absstand an einem bis zu 15 Meter langen Tisch beinander hocken dürfen.

Dieser Tage hat der Freie-Wähler-Führer sein Herz für die kleinen Wirtshäuser geöffnet, für die Kneipen, wie die Kumpels sagen, respekttive für die Boazn, wie man in Altbayern sagt (anderswo wiederum kennt man dergleichen als Beisl, Pubs oder Bistros). Wieder dachte er vor Journalisten laut nach, als die Frage nach Wiederöffnung aufkam. Klar doch: „Je eher, desto besser“. Schnell aber wies, wieder mal, der fränkische Ministerpräsident Söder seinen niederbayerischen Stellvertreter Aiwanger in die Schranken: Klar, man könne auch über offene Schankwirtschaften reden, „aber nur nicht überstürzen“. So überstürzen sich also im bayerischen Corona-Kabinett die Ereignisse.

 

  1. Juli. Die Kinos dürfen nun auch in Bayern wieder spielen, das freut nicht nur die in München besonders zahlreihen Cineasten. Mich hat die flimmernde Leinwand, diese virtuelle Welt mit ihren Menschentypen, Landschaften und Fantasien, ein Leben lang begleitet und oft begeistert. Angefangen mit amerikanischen Importen, der Mickymaus und dem Kinderstar Chirley Temple, die auch die humorlosen Nazis nicht verhindern konnten, über die Mach- und Schmachtwerke der UFA, mit denen uns die Kriegshetzer einlullten, danach mit Western, Krimis, Komödien, Katastrophenthriller. Bevorzugt: historische, literarische und biografische Stoffe sowie der Neue Deutschen Film Etliche Stars und namhafte Filmmacher, das Schwabinger Junggenie Rainer Werner Fassbinder ebenso wie den Pasinger Porno-Produzenten Alois Brummer oder den französischen Naturforscher und -filmer Cousteau, konnte ich Interviewen.

Einer jener Erneuerer war es auch, der mich  jetzt, gleich nach dem staatlich genehmigten „Klappe hoch“, in den Keller des Werkstattkinos lockte.  „800 Mal einsam“ heißt der Filmneuling, der  Edgar Reitz als Mensch und durch sein Lebenswerk würdigt. Eine Liebeserklärung an eine alte Kunst, die so oft totgesagt wurde, die aber auch Corona nicht sterben ließ. Allzu lange hat die Pause gedauert. Seit dem Lockdown war das Publikum ausgeschlossen. Die Kinobetreiber, echte    Idealisten darunter, entließen ihre Angestellten in Kurzarbeit und bangten um ihre Existenz. Sie bangen noch.

Maskenpflicht, maximal 100 Zuschauer in Abständen von anderthalb Meter, also halbleere Säle, kontaktlose Ticketkontrolle, mehr Personal, größere Pausen zwischen den Vorstellungen, häufiges Öffnen der Türen zwecks Durchzug und Erfassung von  Besucherdaten – von derlei hygienischen Vorschriften fühlen sich die Filmleute härter betroffen als die Betreiber von Bahnen und Flugzeugen. Geschäftlich kommt dazu, dass der langen Ersatz durch Streaming im Internet viele vom Kinobesuch entwöhnt haben könnte. Und dass Verleiher mit ihren teuren Produktionen zögern, zum Beispiel mit dem neuen James Bond: „Keine Zeit zu sterben“.

Zwanzig Mitglieder der Münchner „Art House“ Kinos drängen deshalb auf weitere Lockerungen.Wenn die Abstände so blieben und die publikumsstarken Filme dadurch fehlten, könnte Deutschland einen “erheblichen Teil der Kinos verlieren”, meint die Verbandsvorsitzende Christine Berg. Es konnte natürlich nicht ausbleiben, dass die neueste Weltkrise – wie früher schon Cholera und Ebola – selbst zum Filmthema wird. Doris Dörrie, die auch ein Corona-Tagebuch schreibt, hat vor ihrer Filmhochschule zwei Telefonzellen aufgestellt, wo beliebige Passamtem fernmündlich, also ohne Körperkontakt, vor der Kamera über ihr Leben in der Pandemie erzählen können.

Vier Monate nach jenem „Schwarzen Freitag“,  als die Aktienkurse in den Keller  stürzten und Teile der Wirtschaft zu  kollabieren drohten, ist wieder mal Zeit für eine Zwischenbilanz. Zum leichteren Merken etwas auf- oder abgerundet, sah die Cobid-19-Statistik an diesem  Wochenende so aus: 7000 Infizierte mit 220 Toten in München, 50 000 Erkrankte mit 2600 Toten in Bayern, 200 000 getestete Fälle mit 9000 Toten in Deutschland. Und weltweit wurde bisher das Leben  von 570 000 Menschen – eine Stadt wie Dortmund – durch die Seuche ausgelöscht.

 

  1. Juli. Dass die Bayern gerne feiern, haben sogar so bedeutende München-Besucher wie Napoleon und Lenin bestätigt. Und alljährlich Millionen von Oktoberfestgästen. Leider ist das große, rauschige Nationalfest heuer einer Mikrobe zum Opfer gefallen, ebenso Tollwood und die Dulten. Macht fast nichts, es gibt jetzt Ersatz. Auf der so leeren Wies’n und einigen anderen schönen Stadtarenen und Höfen sollen von Ende Juli bis zum zum Ende der Sommerferien lauter kleine, alternative, kostengünstige Volksfeste improvisiert werden. Der Stadtrat, der grün dominierte Bezirksausschuss und die darbenden Schausteller haben dem Projekt, das sich nun doch etwas verzögert hat, freudig bis begeistert zugestimmt.

„Sommer in der Stadt“ heißt – so wie ein Hit der Spider Murphy Gang – das umfangreiche Programm, das der (sonst für Umzüge und die “Oide Wies’n zuständige) Festring München e.V. gemeinsam mit dem Bayerischen Trachtenverband organisiert hat, natürlich unter strenger Beachtung der hygienischen Regeln. Mit dabei sind weitere private Vereine und Veranstalter, die schon mal auf dem Odeonsplatz demonstriert haben, sowie auch die Stadt selbst. Sie alle haben ja auf dem  größten Volksfest der Welt jedes Jahr bestens verdient.

Ein dezentralisiertes Oktoberfest also: “Mit Tanz, Schuaplatteln und Goaßlschnalzen”, wie der Festring im Netz verheißt. Ein Sommerfest mit komödiantischer Wanderbühne, vielen Standln, zwei Riesenrädern, Riesentrampolin, Karussells,Schaukeln, Kletterwand, Biker-Polo, Bier- und anderen Buden. Wie gewohnt also. Als Neuheit dazu eine von „Green City“ kreierte Mini-Oase: 70 Kubikmeter Sand wurden aufgeschüttet und ein paar Palmen in die Theresienwiese gerammt, rundum Liegestühle, Beachvolleyball- und Tennisplatz. Verzichtet werden musste auf die Achterbahn, die schon wegen des TÜV zu teuer käme, sowie auf die „kommentierten Raubtierproben“, wofür der Circus Krone einen lebenden Löwen samt Gehege angeboten hat. Unisono entschieden die Fraktionen: Zu gefährlich und nicht artgemäß..

Soweit die eine, die helle Seite des bürgerlichen Lebens in der Corona-Zeit. Die andere, die Schattenseite, nehme ich durch telefonischen Kontakt mit zwei alten Freunden wahr. Beide heißen Hans. Beide leben in Pflegeheimen und fühlen sich dort einsam, sie sind auch regelrecht interniert. Der Eine war einmal Stadtrat in München und leitete einen Dienstleistungsbereich. Der andere war Reisejournalist und Herausgeber eines in der Touristikbranche viel beachteten Informationsdienstes.

Hans B. haben die corona-bedingten Einschränkungen vollends zermürbt, in Apathie und Depression gefallen. Hans N. war in der Anfangszeit der Krise recht gelassen, fast fröhlich, er war ja gut versorgt und mit der übrigen Welt, die er so oft bereist und beschrieben hat, immer noch vernetzt; nämlich durch Kleincomputer und Internet. Das funktioniert nun nicht mehr – und ein Mechaniker darf nicht ins Heim. Alle leben dort in strenger Quarantäne. Das heißt, erst nach Anmeldung dürfen sie von einem – nur von einem – Angehörigen besucht werden, nicht länger als eine halbe Stunde und getrennt durch eine Glaswand. Seine Hausärztin darf überhaupt nicht kommen.

Die Zeit fließt träge dahin. Sämtliche Veranstaltungsprogramme, vom Gedächtnistraining bis zum Konzert, sind gestrichen. Noch mehr aber nervt den von Natur aus toleranten Traveller a.D., dass die Demenzpatienten im Haus ohne Schutzmaske rumlaufen. Man belehrt sie zwar immer wieder, es hilft kaum. Auch die Pflegekräfte sind längst mit ihrem Latein am Ende. Manche wohl auch mit ihrer Kraft oder gar mit dem guten Willen.

Dabei leiden alt gewordene Menschen anderswo noch um ein paar Grad mehr. Zum Beispiel in Mexiko (bisher über 35 000 Covid-19-Tote). Meine Schwester Irmgard darf in ihrem schönen Heim am Stadtrand mit überwiegend Deutsch sprechenden Bewohnern nicht mal von ihren eigenen drei Kindern besucht werden. Die Alten – sie sind die fast Vergessenen der großen Krise, über deren fatale Folgen man hierzulande am liebsten wegen der Erschwernisse und Belästigungen in Biergärten oder Unterhaltungsstätten lamentiert.

 

  1. Juli. Die Geselligkeit lässt zur Zeit doch sehr zu wünschen übrig. Nach längerem Stillhalten war ich mal wieder beim Verein der Rheinpfälzer in Bayern, der bisher immer sehr aktiv war. Kaum 20 Mitglieder wagten sich in den schönen Biergarten im Ostpark. Allgemeine Frage an den Vorsitzenden: Wann endlich geht es mit den Vortrags-, Ausflugs- und Wanderprogrammen weiter? (Ich hatte mich selbst auf eine Lesung und eine Führung vorbereitet). Herr Müller wiegte den Kopf: Immer noch diese Probleme, Abstand halten und so…Nicht wenige der 180 Mitglieder, überwiegend Rentner, haben ihn wissen lassen, dass sie immer noch – mehr oder weniger – Angst vor derartigen Zusammenkünften haben.

Das Vereinsleben, das ja nicht ganz unwichtig ist im Dasein älterer oder einsamer Bürger, findet offenbar keinen Nährboden in dieser Zeit der Einschnürung. Wie lange soll das denn noch dauern? Eine Dauerfrage ohne Antwort. Vagen virologisch-politischen Prognosen folgend, richtet sich auch unser kleiner Verein erst mal auf den Herbst ein. Vielleicht kann dann wieder gemeinsam gewandert, eingekehrt und gebechert werden.

Manche Leute erwarten mehr Aktivität, mehr freie Freizeitgestaltung, auch erst zum Winter. Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger zum Beispiel, dem die Wirte sehr am Herzen liegen, denkt jetzt bereits an Weihnachten. Alles in seiner Macht stehende will der Freiwähler-Führer tun, damit heuer wieder die beliebten Traditionsmärkte stattfinden: vom weltberühmten Christkindlesmarkt in Nürnberg, wo Social Distance allerdings ganz unmöglich wäre, bis zum romantischen „Märchenbasar“ in München. „Das wird wie Weihnachten,“ frohlockte jetzt schon mal Peter Bausch vom Verband der Schausteller und Marktkaufleute, als soeben der „Sommer in der Stadt“ quasi als Wies’n-Ersatz eröffnet wurde. (Siehe 20. Juli)

Fast schon in Winterstimmung versetzt, höre ich aus dem Radio ein Interview mit dem Sprecher des Deutschen Skiverbandes. In dessen Vorstandssitzung ging es um die kommenden wintersportlichen Ereignisse. „Die ganze Woche, von Montagfrüh bis Freitagabend, sind wir mit Corona beschäftigt,” versichert der DSV-Mann. Besondere Sorge machen die Nordischen Ski-Weltmeisterschaften, die Ende Februar 2021 in Oberstdorf beginnen  und auch ein Jugendcamp bekommen sollen. “Hoffentlich wird diese WM wieder so, dass sie wenigstens ansatzweise den Begriff ‘märchenhaft’ verdient.“ – Hoffentlich aber nicht wieder so märchenhaft, wie in der Ski-Hochburg Ischgl erlebt.

  1. August. Nach langer Zeit wieder mal ein Ausflug zur Alten Villa in Utting, wo einst an warmen Wochenenden der beste Dixilandjazz im Vorland von München gespielt wurde. Der Biergarten ist gut besetzt. Die Kastanien spenden immer noch Schatten. Nur die Musik ist verstummt. Der Mann am Steckerlfischgrill schnauzt mich an, weil ich das rotweiße Absperrband übersehe: „Kostet mich ein paar Tausender.“ (Tatsächlich hat die Staatsregierung soeben Verstöße gegen die Hygienevorschriften auf maximal 25 000 Euro erhöht). Die Brotzeitfräuleins aber sind sehr freundlich.

Von der Alten Villa zu den jungen Vitalen am Ammersee. Ich setze mich, mit Abstand, auf eine Bank neben eine alte Dame und ihre blutjunge Betreuerin. Belustigt betrachten wir alle das bunte Treiben am Ammerseestrand. Unbeschwert gibt sich das Völkchen, daarunter wohl viele Ausflügler aus München und Augsburg, dem Sonnenbaden und Ballspielen hin. Kinder planschen im aufgeheizten See. Abstand ja, Maske nein. Begriffe wie „Lockdown“ sind hier so gut wie unbekannt.

„Mir schaffans scho,“ sagt plötzlich  die freundliche alte Frau; es hört sich an wie das mutige Merkel-Motto auf Bayerisch. Maria Marx,  so heißt meine Nachbarin, meint ihr und unser gemeinsames Leben zur Corona-Zeit. Spontan fängt sie an, von noch schlimmeren Zeiten zu erzählen, von Ereignissen, die sie überstanden hat, etwa im Zweiten Weltkrieg. Lange vorher, als Finale  der ersten Kriegs-Pandemie, hatte das kleine Utting, wo Maria 1921 geboren wurde, Auswirkungen der Spanischen Grippe erlebt.

Mit dem neuen Bähnle waren damals Badegäste aus der 40 Kilometer entfernten Großstadt Augsburg gekommen, wo Seuche und Tod umgingen. Sanitätsautos mit Grippeopfern – so kann man im bayerischen Militär-Archiv nachlesen – verstopften die Straßen; deshalb und wegen Benzinmangels kamen die Ärzte nicht zu den Kranken, die Stadt stellte Gutscheine für Kraftdroschken aus.

Unter den Stadtflüchtlingen war ein widerspenstiger Augsburger Abiturient mit seinen Freundinnen und Freunden. „Im bleichen Sommer“ des Grippejahres 1919 schrieb er eines seiner schönsten frühen Gedichte: „Vom Schwimmen in Flüssen und Seen“. Und 1929 kaufte er sich vom Dreigroschenoper-Ertrag in Utting ein Häuschen, dem er ebenfalls ein Gedicht widmete: „Sieben Wochen meines Lebens war ich reich.“ Danach kam er, so viel man weiß, nie wieder an den Ammersee. Ein  Sträßchen trägt  seinen Namen;  Bert Brecht.

Maria Marx hat jahrzentelang die örtliche Segelschule geleitet. Jetzt lebt sie in „im Austrag“ in einem alten Fischerhäuschen. Sie ist fest davon überzeugt, dass sie in fünf Monaten – Corona hin, Corona her  – ihren hundertsten Geburtstag noch erleben  wird. Und zwar „g’sund“, wie sie hinzufügt. Sie verrät mir auch ihr Lebenselixier: „I hab net vui g’essen, war nia dick, und a weng gsportelt hab i aa.“  Direkt vor uns üben zwei Mädchen das Stehpaddeln.

Drei Tage vorher, ebenfalls 40  Kilometer Luftlinie entfernt, Presseclub am Marienplatz München: „So schön war’s noch nie,“ zitiert Angela Inselkammer einen beliebigen Bayern-Besucher. Die Gastro-Präsidentin bekräftigt diese starke Aussage mit  Hinweisen auf den „Sommer in der Stadt“, welcher mehrere, oft eher öde Plätze durch Standln und allerlei Gaudi befristet belebt und einige aufhübscht. (Siehe 20. Juli). Das Gespräch mit den Obersten des Bayerischen Hotel- und Gaststättenverbands gilt eigentlich der Frage, ob wegen der Corona-Beschränkungen ein „Wirtshaussterben“ zu erwarten sei – das eh schon  begonnen hat.

So schön? Nanu – wieder alles paletti? Schau’n wir mal. Tatsächlich brodelt und boomt da  unten die gute Stube der Stadt. Shopping- und Schaulust fast wieder wie vordem. Scheinbar ziellos schlendern die Leute über den Marienplatz. Die meisten wahren den nötigen Abstand und lassen die Maske in der Tasche oder am Ohr baumeln. Sie starren hoch zum Glockenspiel am Rathaus, das aber stumm bleibt. Sie steigen eilig in die unterirdische Bahn. Sie lassen sich von Stadtführern beschwatzen. Sie kaufen und knipsen und konsumieren vor Buden oder Bierhäusern. Alles wie gehabt.

Auf den Bänken aus Blech aalen sich nicht nur müde, ältere Bürger. Menschen allen Alters, aller Geschlechter und offenbar auch wieder Besucher aus fernen Ländern blinzeln da in die Sonne des Münchner Sommers Einige blättern in Büchern oder Zeitungen.  Aktuelle Fotos zeigen die nun auf Parkplätzen erlaubten „Freischankflächen.“ Dorthin und dahin hat sich also das „dolce far niente“ verlagert,  zum „Süßen Nichtstun“ muss man derzeit nicht unbedingt nach Italien reisen.

„Oh, wie schön ist München,“ flötet die Schlagzeile des Lokalteils. Ein Blick jedoch auf die Frontseite desselben Leitmediums belehrt uns eines Besseren, d.h. Schlechteren. Die Haiptschlagzeile  zitiert den deutschen Chefvirologen Lothar Wieler: „Die Entwicklung macht große Sorgen“. Es folgen die neuesten Zahlen. In der Grafik dazu ist die rote Kurve der Neu-Infektionen in Deutschland wieder deutlich angestiegen , die im streng reglementierten Freistaat Bayern auch. An Begründungen mangelt es den Robert-Koch-Forschern nicht, sie müssten inzwischen jedem Mediennutzer hierzulande hinreichend bekannt sein. Am Samstag aber gibt die Süddeutsche nochmal Zucker mit der Zeile: „So schön ist der Urlaub daheim.“

Viele Zitate – zwei Wahrheiten in dieser ungewissen neuen Zeit: Da der Schrecken – dort die Schönheit; da Lebensbedrohung – dort Lebenslust und Lebensbehauptung; da die Angst – dort Mut und Hoffnung.

 

 

 

 

Redaktion

Anton Hötzelsperger

Als freier Journalist bin ich bereits seit vielen Jahren mit der täglichen Pressearbeit für die Region Chiemsee, Samerberg und Oberbayern befasst. Mit den Samerberger Nachrichten möchte ich eine Plattform bieten für Beiträge aus den Bereichen Brauchtum, Landwirtschaft, Tourismus und Kirche, die sonst vielleicht in den Medien keinen breiten Raum bekommen würden.

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